Globales Ernährungssystem: Von Malmö und São Paulo lernen
Unsere Ernährung ist klima- und umweltschädlich und schadet der Gesundheit. Nötig sind ein radikaler Umbau und mehr demokratische Beteiligung.
D ie heutige Art der Ernährung führt in den Abgrund. Was wir essen und trinken, ist für 21 bis 37 Prozent der klimaschädlichen Gase verantwortlich. Das beginnt bei abgeholzten Regenwäldern für Tierfutter, geht über klimaschädlichen Kunstdünger bis hin zu hohem Fleischkonsum und immenser Lebensmittelverschwendung. Hinzu kommen aufwendige Transportketten: Wer heute eine Tiefkühlpizza in den Einkaufswagen legt, entscheidet sich für ein Produkt, dessen Zutaten mit hoher Wahrscheinlichkeit aus mehreren Kontinenten stammen.
Empfohlener externer Inhalt
Dabei ist die Klimakatastrophe längst nicht das einzige Umweltproblem, das das heutige Ernährungssystem mitverursacht. Hinzu kommen Artensterben und der gestörte Stickstoff-Phosphor-Kreislauf – beides ist bedrohlich für die Zukunft der Menschheit. Zwar findet vieles davon nicht unmittelbar in den Städten statt – aber ohne die dortige Nachfrage gäbe es einen Großteil der Probleme nicht. Fast 100 Städte aus aller Welt haben sich deshalb mit der Glasgow-Erklärung „Ernährung und Klima“ selbst verpflichtet, eine neue, ganzheitliche Ernährungspolitik zu entwickeln.
Zu den Unterzeichnenden gehören unterschiedliche Kommunen wie São Paulo und Malmö, Darebin in Australien und Okene in Nigeria. Deutsche Städte fehlen bisher. Klimaschutz wird hier vor allem als Energie- und Mobilitätsproblem wahrgenommen – und oft steht im Land der Ingenieure und Maschinenbauer Technik im Zentrum.
Ernährung ist aber auch ein Gerechtigkeits-, Wirtschafts-, Kultur- und Bildungsthema. Über 800 Millionen Menschen hungern weltweit, vor allem solche in ländlichen Regionen. Der Klimawandel, aber auch der Anbau von Energiepflanzen und Futtermitteln für den Weltmarkt rauben ihnen die Lebensgrundlage. Zugleich nehmen Übergewicht, Adipositas und Allergien weltweit zu.
Zentrale Ursache dafür sind hochverarbeitete Lebensmittel, die viel Zucker als Füllstoff enthalten und die Bakterien im Dickdarm verhungern lassen. Wer im Kindesalter überschüssige Kilo ansammelt, wird dieses Problem oftmals nicht mehr los. Für diese Menschen bedeutet das oft Scham – und für die Krankenkassen hohe Kosten wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
„Entlang der gesamten Nahrungsmittelkette [haben sich] nicht nachhaltige Dynamiken verfestigt …, die in erster Linie von industriellen Nahrungs- und Landwirtschaftssystemen herrühren“, analysiert die Glasgow-Erklärung. Nötig seien integrierte und ganzheitliche Ansätze. Dafür müssten vielfältige Gruppen einbezogen werden – von den Arbeiter*innen in der Land- und Lebensmittelwirtschaft über zivilgesellschaftliche Gruppen und Forschende bis hin zu Indigenen und Jugendlichen.
In weiten Teilen der deutschen Politik ist allerdings noch nicht angekommen, dass ein radikaler Umbau des Ernährungssystems nötig ist. Bisher bewegt sich die Debatte auf eher niedrigem Niveau. Da geht es darum, ob die Politik das Recht hat, Grillfreunden ihr Nackensteak madig zu machen oder ein Veggie-Tag in Kantinen einen zu starken Eingriff in die individuelle Freiheit darstellt. Der politische Umgang erinnert an die Aufforderung an das Titanic-Orchester, weiterzuspielen, um die Passagiere nicht zu beunruhigen.
Weil Regierungen in Deutschland auf allen Ebenen das Problem nicht in angemessener Weise angehen, müssen die nötigen Anstöße von woanders kommen. Sinnvoll wäre es, auf Bundesebene einen Bürger*innenrat einzurichten, der durch Zufallsauswahl per Los zusammengesetzt ist. Internationale Erfahrungen zeigen, dass Bürger*innenräte zu klugen und durchaus radikalen Vorschlägen in der Lage sind – auch weil Lobbyisten dort keinen Einfluss haben. Stattdessen können sie Expert*innen einladen und befragen.
An Expertise mangelt es nicht. So hat der Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Johan Rockström, zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen einen Speiseplan entwickelt, mit dem sowohl der Planet Erde gesund bleiben als auch die gesamte Erdbevölkerung gut ernährt werden könnte. Pro Kopf und Tag bedeutet das im Durchschnitt: 550 Gramm Obst und Gemüse, 230 Gramm Vollkorngetreide, 75 Gramm Hülsenfrüchte, 50 Gramm Nüsse, 250 Gramm Milchprodukte, 13 Gramm rotes Fleisch, 29 Gramm Geflügel und 28 Gramm Fisch. Wie so etwas umzusetzen ist, ist allerdings noch eine ungelöste Frage.
Bevölkerung muss den Wandel mittragen
Klar ist: Die notwendigen Veränderungen kann es nur geben, wenn sie die Bevölkerung breit mitträgt. Der Berliner Ernährungsrat schlägt deshalb vor, einen ernährungsdemokratischen Campus für die Region Brandenburg-Berlin einzurichten. Dort soll echte Partizipation stattfinden. Menschen mit vielfältigen Erfahrungen und Hintergründen würden nach Wegen für die große, drängende Frage suchen: Wie können Produktion und Konsum aller in der Region benötigten Lebensmittel die planetaren Grenzen wahren und zugleich sozial fair sein?
Hier soll diskutiert, experimentiert und gemeinsam an Lösungen gearbeitet werden. Expert*innen sind eingeladen, um Informationen und Hintergründe zu liefern. In Berlin-Brandenburg gibt es bereits viel Forschung zu unterschiedlichsten Aspekten eines zukunftsfähigen Ernährungssystems. Gleichzeitig arbeiten mehrere Initiativen, Projekte und Unternehmen an konkreten Mosaiksteinen. Was noch fehlt, ist eine große, gemeinsame Vision – und der Weg dorthin.
ist freie Journalistin und Buchautorin und eine der Sprecher*innen des Berliner Ernährungsrats, der sich für eine ökologische Nahrungsproduktion und eine sozial gerechte Verteilung von Lebensmitteln einsetzt. Sie hat die Redaktion geleitet für das soeben erschienene Buch: „Berlin isst anders. Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“. Gratis-Download unter: https://ernaehrungsrat-berlin.de/berlin-isst-anders/
Das alles kann nur funktionieren, wenn das Zukunftsbild attraktiv erscheint. Doch was spricht dagegen? Wie kaum ein anderes Thema kann Essen Genuss bedeuten. Etwas Leckeres genießen, dabei Zeit haben zu quatschen, Gemeinschaft zu erleben – ist das keine gute Perspektive in einer Welt, in der viele Menschen irgendetwas Kalorienhaltiges zwischendurch runterschlingen, nur damit es gleich weitergehen kann mit der Arbeit und sonst was?
Annette Jensen ist freie Journalistin und Buchautorin und eine der Sprecher*innen des Berliner Ernährungsrats. Sie hat die Redaktion geleitet für das soeben erschienene Buch: „Berlin isst anders. Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“. Gratis-Download unter: https://ernaehrungsrat-berlin.de/berlin-isst-anders/
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Kritik an der taz
Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs