Glaube und Protest in Iran: Der Aufstand als politischer Exodus
Die Aufstände in Iran sind nicht so überraschend, wie viele glauben. Ein System, das die Sittenpolizei braucht, ist schon lange nicht mehr akzeptiert.
A us hiesiger Perspektive finden die Ereignisse im Iran in weiter Ferne statt: in einer geografischen, politischen und kulturellen Ferne. Dies macht die massenhaften Proteste, die trotz grausamer Gegenmaßnahmen seit zwei Monaten immer wieder aufflammen, ebenso unerwartet wie unglaublich.
Wie kommt es, dass eine Gesellschaft derart aufbegehrt, weiter und weiter, auch wenn die Staatsgewalt brutal dagegen vorgeht? Woher nehmen die Menschen den Mut, sich gegen die staatliche Einschränkung ihres Lebens aufzulehnen? Woher nehmen insbesondere die Frauen den Mut, aus dem Gefängnis des Kopftuchs auszubrechen – auch wenn sie dabei ihr Leben riskieren?
Viele Einzelne. Die sich dann zu einer Masse verdichten – in die wahllos geschossen wird. Und die dennoch weitermacht. Sich wieder trifft. Wieder versammelt. Eine Masse, die die Einzelnen auffängt – auch wenn sie sie nicht schützen kann.
Die Nachrichten, die uns erreichen, die Videos, die Mitteilungen von Aktivisten, die Gespräche mit Betroffenen zeigen beides: eine begreifliche Angst ebenso wie einen unbegreiflichen Mut. Die unglaublichen Zustände vor Ort lassen sich dabei nur erahnen.
Abstraktes Wissen
Man wusste: Seit der iranischen Revolution 1979 gibt es die islamische Republik. Das sogenannte Mullahregime. Aber für das europäische Publikum war das ein abstraktes Wissen. Was das für die Leute vor Ort, vor allem für die Frauen, bedeutete, blieb in unbestimmter Ferne. Die Frauen, die jetzt ihre Verhüllung abwerfen, werden plötzlich sichtbar: physisch und metaphorisch.
Mit ihrer neuen Sichtbarkeit lüften sie auch den Nebel um dieses Regime und machen einiges von der Realität dieser Herrschaft augenscheinlich. Insbesondere ein Konzept, eine Institution wird auf den wackeligen Videos deutlich erkennbar: die sogenannte Sittenpolizei.
Was ist das für eine Institution, die ihren Widerspruch schon in ihrer Bezeichnung trägt? Sitte ist das Verhalten, das durch Tradition selbstverständlich wird. Sitten sind das, was den Einzelnen mit der Gesellschaft verbindet. In einer Theokratie, wo politische und religiöse Herrschaft zusammenfallen, sind die Sitten durch die Religion bestimmt.
Warum braucht der Glaube, warum brauchen Sitten eine Polizei? Wie schwach muss der Glauben sein, wie wenig müssen die Sitten greifen, wenn es einer Polizei bedarf, um diese durchzusetzen? Das, was diese dann durchsetzt, sind dann aber keine geglaubten Sitten mehr, sondern äußerliche Vorschriften. Die Leute fühlen sich nicht mehr verpflichtet, sie werden gezwungen.
Jede Abweichung sanktionieren
Die Grundlage des Mullahregimes musste schon lange gebröckelt haben, wenn es 2005 eine solche islamische Religionspolizei installieren musste, um die Einhaltung der islamischen Gesetze im Lebensstil durchzusetzen. Deshalb muss jede Lockerung der Sitten abgewehrt werden, denn sie stellt eine direkte Bedrohung des Regimes dar. Sodass sich eine eigene Polizei, die jede Abweichung penibelst misst, um den korrekten Sitz der Kopftücher kümmert. In aller Brutalität.
Wenn aber in einer Theokratie Sittenstrenge und Glauben abnehmen, dann bedeutet das ein Auseinanderdriften von Gesellschaft und Macht. Wie viel Distanz, wie viel Unzufriedenheit, Unglück, Wut musste sich aufgestaut haben, damit der gewaltsame Tod der jungen Kurdin Jina Amini zum Auslöser solch eines Aufstands werden konnte.
Dieser Aufstand ist ein politischer Exodus der Menschen aus diesem Staat – der sich damit immer mehr auf eine tyrannische Herrschaftsclique reduziert. Deren grausame Reaktionen auf diesen Aufbruch, auf diese Verweigerung der Gefolgschaft zeigen eines: Ein religiöses Regime, das auf Glauben basiert, untergräbt seine eigene Grundlage, wenn es nur durch rohe Staatsgewalt überlebt.
Denn wenn ein solches Regime brutale Moralpolizei braucht, um sich zu erhalten, dann verrät es, so Slavoj Žižek, „die authentische religiöse Erfahrung“, mit der es sich legitimiert. Genau das machen die mutigen Frauen – und Männer – sichtbar.
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