Corona-Aufarbeitung in Österreich: Zaubertrick eines hörigen Kanzlers

Mittlerweile weiß man, nicht jede Coronamaßnahme war sinnvoll. Österreichs Regierungschef versucht sich nun gegen „die da oben“ zu positionieren.

Sucht die populäre Seite: der österreichische Kanzler Karl Nehammer Foto: Heinz-Peter Bader

Nachdem Corona als Pandemie weitgehend eingedämmt ist, wird es Zeit, Rückschau zu halten. Zeit, Maßnahmen, die notgedrungen im Trial-and-Error-Modus beschlossen wurden, zu diskutieren. Auch und gerade seitens der Politik. Das fand offenbar auch die österreichische Regierung. Und so stellte sich der Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) vor die Presse und kündigte eine gründliche Aufarbeitung an.

Es ist keineswegs üblich, wenn ein Regierungschef sagt: Nach solch einem außerordentlichen Ereignis wie der Pandemie sei es notwendig, die getroffenen Maßnahmen kritisch und schonungslos zu analysieren. Denn diese drei Jahre Pandemie haben bei allen Spuren hinterlassen, Traumata erzeugt, Gräben aufgerissen.

Diese gelte es nun zu bearbeiten, aufzuarbeiten, zuzuschütten. Es brauche einen Versöhnungsprozess. Es könnte etwas Aufrechtes und Mutiges sein, mögliche Fehler beim Namen zu nennen. Es könnte etwas Gutes und Wertvolles bewirken. Eine echte selbstkritische Betrachtung, einen erkenntnisreichen demokratischen Prozess in Gang bringen. Könnte.

Aber schon bei der Ankündigung zerschlägt der konservative Politiker diese Möglichkeit. Nicht weil er parteipolitische Interessen hat und verärgerte Wäh­le­r:In­nen wieder einfangen möchte. Nicht der allzu durchsichtige politische Eigennutz, sondern ein einziger Satz ist es, der das ganze Unterfangen in sein Gegenteil verkehrt: „Wir waren expertenhörig, nun sollen Experten erklären, warum sie zu dieser Entscheidung gekommen sind.“

Kein zufälliges Wort

Bei so einer ungewöhnlichen, heiklen und symbolisch aufgeladenen Ankündigung ist wohl jedes einzelne Wort abgewogen. Da unterläuft einem ein Adjektiv wie „expertenhörig“ nicht einfach. Da setzt man es gezielt ein. Gegen das, was vielleicht das größte Unbehagen im Corona-Modus ausgelöst hat: das Auftreten der Politik als jene Entscheidungsmacht, die sie immer ist – die nun aber nackt und unverhüllt in Erscheinung trat. Aber wie es scheint, war das nur ein Fake.

Denn offenbar waren die Politiker gar nicht die Entscheider, sondern vielmehr hörig – also der Macht „der Experten“ unterworfen. Die österreichische Regierung wäre demnach nicht entschlossen, sondern willenlos, nicht aktiv, sondern passiv, nicht selbst-, sondern fremdbestimmt, nicht vernünftig, sondern ohne Vernunft – eben hörig gewesen.

Was bedeutet das für eine Regierung? Es bedeutet das Gegenteil von dem, was die „Aufarbeitung“ ankündigt: Es sagt nicht, dass in solch einer Ausnahmesituation klarerweise Fehler gemacht wurden, die es jetzt zu betrachten gälte. Schonungslos. Es bedeutet vielmehr, das Handeln, die Maßnahmen als solche als Fehler zu denunzieren. Es heißt: Wir haben nicht aus bestem Wissen und Gewissen entschieden, wir haben nicht gemäß den Vernunftkriterien des Augenblicks gehandelt. Denn wir waren nie rational – nur hörig!

Mit einem einzigen Satz wird die ganze heikle Wissenschaftsbasis einer Gesellschaft unterlaufen. Mit einem Satz wird die Rationalität des eigenen Handelns an „die Experten“ ausgelagert – um sich im Irrationalen mit den Kritikern zu versöhnen, zu vereinen. Weshalb Nehammer auch deren Erzählung übernimmt, wonach nicht die Pandemie, sondern die Maßnahmen das Trauma gewesen seien. Damit reiht sich der österreichische Bundeskanzler ein bei den Wissenschaftsskeptikern.

Die Seiten wechseln

Das ist nicht nur ein Denunzieren, ein Abputzen an „den Experten“. Mit diesem einen Satz vollzieht Nehammer vielmehr einen Wechsel: Er wechselt die Seiten. Er schüttet die Gräben nicht zu, sondern wechselt das Ufer. Ein Vabanque-Spiel, mit dem Karl Nehammer nicht nur die Verantwortung abwälzt, sondern ein Bubenstück versucht: Kanzler und Querdenker, Mächtiger und Opfer, Entscheider und Kritiker zugleich sein. Es ist der Wahnwitz, sich als Regierungschef gegen „die da oben“ positionieren zu wollen.

Das ist kein Balanceakt mehr, sondern eine Zweiteilung – wie beim Zaubertrick, wo der Magier auf offener Bühne die Jungfrau „zersägt“. In einem Godard-Film ruft ein abstruser Boxer ständig: „Tiger Jones, den schlag ich k. o.“, nur um am Ende festzustellen: „Tiger Jones, das bin ich ja selbst.“

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