Gewalt von Jugendlichen: Früher war mehr Silvester
Halbstarke, Hausbesetzer, Hooligans: Deutschland hat viel Erfahrung mit jugendlicher Gewalt. Die Lehre: Repression allein hilft nicht weiter.
H underte junger Männer greifen in der Silvesternacht Polizisten und Feuerwehrleute mit Böllern und mit Schreckschusspistolen an. Dutzende werden verletzt. Die Republik ist empört. Was führt zu dieser Enthemmung? Warum sind von den Tätern so viele aus Familien mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei und dem Nahen Osten? Liegt es am Islam? Oder doch an den patriarchalen Familienstrukturen?
Für viele scheint ausgemacht, dass dieser Ausbruch von Gewalt gegen Vertreter*innen der Staatsmacht eine bislang unbekannte Qualität und Brutalität hat. Dieser Eindruck täuscht. Trotz der verstörenden Bilder und Berichte aus der Silvesternacht gilt: Die Jugend in Deutschland war nach 1949 noch nie so friedlich, ruhig und duldsam wie in den letzten zehn Jahren. Das ist keine steile These, das sind die harten Fakten. Sie werden von jenen bestätigt, die es am besten wissen – den Versicherern im Land. Sie haben den besten Überblick über die finanziellen Folgen körperlicher Angriffe und Sachbeschädigungen über die Jahrzehnte.
Auf dieser objektivierten Grundlage von Versicherungsdaten könnte man auch folgende Nachricht generieren: Migration macht die Gesellschaft friedlicher! Je höher der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland wurde, desto weniger Gewalt gab es. Diese Schlussfolgerung wäre allerdings ein ebensolcher Unfug wie die Islam- oder Patriarchatsthese!
Vielmehr hat die Entwicklung mit der Vergreisung Deutschlands zu tun. Je weniger Jugendliche es in einer Gesellschaft gibt, desto ruhiger und friedlicher, man könnte es auch abgeschlaffter nennen, wird sie. Ruhe ist das neue gesellschaftliche Normal. An diesen Zustand haben die Menschen sich gewöhnt. Das ist nicht gut.
war Meinungsredakteur und Leiter des Inlandsressorts der taz. Seit 2002 ist er Geschäftsführer der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Er ist Autor von Büchern über Migration, Islamismus, Rechtsextremismus und jugendliche Subkulturen.
Wenig Hemmungen
Jungproletarisches Aufbegehren gegen die Zumutungen des Lebens, jugendliche Ungeduld, radikaler Protest und Grenzverletzung, politischer Protest, konfrontatives Verhalten, Gesetzes- und Regelverstöße gehören zu einer dynamischen Gesellschaft. Auf die Gegenseite gehören Erwachsene und Institutionen, die Grenzen ziehen, Bestehendes bewahren, Bewährtes verteidigen und auf der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen und Konventionen beharren. Diese dialektische Entwicklung, die Checks and Balances sind ein Garant gesellschaftlicher Entwicklung. Wenn sie fehlen, wird es modrig.
So ist das seit Generationen in modernen Gesellschaften – außer in totalitären und den vergreisten. Werfen wir einen Blick zurück auf die Jahrzehnte, als in diesem Land die Heranwachsenden noch zu nahezu 100 Prozent einen Kartoffelhintergrund hatten – also in die 1950er, 60er, 70er und 80er Jahre. In all diesen Jahrzehnten war jugendliches Aufbegehren immer auch mit Gewalt gegen Polizisten, Sanitäter und die Feuerwehr verbunden. Nachzulesen ist das in unzähligen Berichten über Halbstarkenkrawalle (Leipzig, München), Zerstörung von Veranstaltungsstätten (Berliner Waldbühne), gewalttätigen Studentenkrawallen (Berlin, Tegeler Weg) und einer Alternativ-, Autonomen- und Hausbesetzerszene (Hamburg, Frankfurt, Berlin).
Die Letztgenannten hatten wenig Hemmungen, was Gewaltanwendung angeht: Polizisten wurden immer wieder mit Zwillen (Stahlkugeln) beschossen, mit Pflastersteinen und Molotow-Cocktails attackiert, von Dächern herab mit Steinplatten beworfen (Berlin) und sogar erschossen (Frankfurt, Startbahn West). Autos wurden verbrannt, Geschäfte geplündert. So handhabten das die Boomer aus urdeutschen Mittelschichtsfamilien.
Komplex, aber nicht so kompliziert
Vergessen scheinen auch die regelmäßigen Schlachten von Hooligans aus mehrheitlich bildungsfernen Familien der Mehrheitsgesellschaft in den Fußgängerzonen und Innenstädten in den 1980er Jahren. In den 1990er und den Nuller Jahren rollte, ausgehend von den damals neuen Bundesländern, eine völkische Jugendrevolte durch Deutschland. Jugendlicher Protest und Aggressionen richteten sich erstmals nach 1945 nicht mehr gegen „die da oben“, also staatliche Autoritäten, sondern wendeten sich primär gegen Angehörige von Minderheiten und kosteten Hunderten das Leben.
Deutschland verfügt über hinreichend Erfahrungen im Umgang mit jugendlicher Gewalt. Es gibt bewährte Konzepte der Prävention, Intervention und Repression. Der Staat und die Gesellschaft haben entsprechendes Know-how in Polizei, Justiz, Pädagogik, Kultur und Sozialarbeit angehäuft. Es existieren übrigens auch ermutigende Beispiele von erfolgreicher Reintegration von jugendlichen Gewalttätern und Protestmilieus in die Gesellschaft.
Eine Lehre aus verganenen Erfahrungen lautet: Repression und markige Sprüche alleine führen zu nichts. Jugendliche machen nicht nur Probleme, sondern haben in der Regel auch welche. Und manchmal, das zeigen internationale Studien aus London und anderswo, schafft unangemessenes Polizeiverhalten gegen Minderheiten auch erst die Probleme, die es dann zu lösen gilt. Es ist mitunter eben komplex, aber auch nicht so kompliziert.
Zu einer wirksamen Auseinandersetzung mit aufbegehrenden Jugendlichen braucht es mehr als verbale Aufrüstung und Aufstockung der Polizeikräfte. Es braucht für diese Jugendlichen und ihre Familien auch eine Wirtschafts-, Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik – und Zukunftschancen, die diesen Namen verdienen. Und es braucht Selbstwirksamkeitserfahrung für Jugendliche, die konstruktiv sind und nicht so destruktiv wie in der Silvesternacht: Hier werde ich wahrgenommen, hier gelte ich etwas, hier kann ich was bewegen. Wo gibt es solche Erfahrungen und wo gab es diese in den Jahren der Pandemie? Und wie wirken die globalen multidimensionalen Krisen auf welche Milieus? Das alles sind Fragen, auf die es nun Antworten zu finden gilt.
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