Gewalt in Jugendhilfe-Einrichtung: Gefahr in der Wohngruppe
In einer Wohngruppe vor Hamburg wurde ein Junge von einem anderen Kind am Kopf verletzt. Die Erzieher kümmerten sich nicht um einen Arzt.
Den Vater empört, dass die Erzieher seinen Sohn nicht zum Arzt brachten, sondern Freitagnachmittag bei der Mutter abgaben – ohne die für Arztbesuche nötige Krankenkassenkarte.
Die taz erfuhr Sonntag von dem Vorfall. Eine Informantin schickte Fotos. Neben dem linken Auge ist das Jochbein bläulich verfärbt, die Wange darunter mit roten Punkten überzogen. Wer näher hinguckt, erkennt die Rillen einer Sohle.
Im Bericht der Klinik steht: „linker Gesichtsschädel oberflächliche Prellmarke im Sinne eines Schuhabdrucks über dem Jochbein und linke Stirn, ebenfalls Prellmarke rechts temporal“. Die Ärztin empfiehlt lokale Kühlung, Schonung, bei Bedarf Ibuprofensaft. Und eine Vorstellung in der Rechtsmedizin.
Der Junge bleibt am Wochenende bei seiner Mutter. Die sei gesundheitlich beeinträchtigt und habe deshalb das Sorgerecht verloren, sagt der Vater. Seit gut einem Jahr lebt das Kind in einer Wohngruppe mit zehn Plätzen in einer Kleinstadt vor den Toren Hamburgs. Schmidt war mit der Mutter nicht verheiratet und hatte nie das Sorgerecht. Aber er durfte sporadisch seinen Sohn besuchen, zuletzt wegen Corona seltener.
Studien des Deutschen Jugendinstitutes (DJI) zufolge bestehen auch in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung Risiken einer Kindeswohlgefährdung, die in etwa vergleichbar sind mit den Risiken in privater Verantwortung.
Die größte Gefährdung gehe für Menschen in Einrichtungen von Eltern aus. Das Gefährdungspotential von Gleichaltrigen folge an zweiter Stelle.
Bei der Studie „Kultur des Hinhörens“ von 2017, für die 264 Jugendliche befragt wurden, die im Schnitt 16 Jahre alt waren und 28 Monate in Einrichtungen lebten, gaben 30 Prozent an, körperliche Gewalt erlebt zu haben.
An besagtem Freitag habe ihn die Einrichtung angerufen. „Die haben mir das als Unfall verkauft“, sagt Schmidt. Es sei aber kein Unfall. Darin habe ihn die Polizei bestätigt, als sie am Samstag seine Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung aufnahm. Die Eltern geben eine zweite Anzeige auf zur Klärung der Umstände.
Der Junge hatte bei der Polizei berichtet, dass er mit dem anderen Kind Playstation spielte und in Streit geriet. Der andere Junge soll dann die Tür zugehalten haben, worauf David gegen die Tür gebollert und um Hilfe geschrien habe. „Dann habe der ihn reingestoßen und ist auf ihn mit Schuhen los“, gibt der Vater den Bericht wieder. Die Polizei sagte den Eltern, der Gang zur Rechtsmedizin wäre nicht nötig. Der Klinikbericht genüge.
Doch am Montag früh steht erst mal die Frage im Raum, was jetzt mit David passiert. Sein Sohn wolle nicht zurück, sagt Schmidt. „Wir würden es bevorzugen, wenn er erst mal bei der Familie bleibt.“ Auch die Mutter ist dieser Meinung. Man einigt sich mit Mitarbeitern des Jugendamtes und das Kind bleibt ein paar Tage zu Hause.
Die Familie wohnt im Bezirk Hamburg-Mitte. Die taz fragt dort nach, was vorgefallen sei und was nun werden solle? Sprecherin Sorina Weiland erklärt, sie könne zu Einzelfällen keine Auskunft geben. Aber sie versichere, „dass seitens des Jugendamtes und des Trägers alle erforderlichen Schritte zur Aufklärung des Sachverhaltes und zur Lösung eingeleitet wurden“.
Mark Schmidt wurde morgens bei einem Gespräch im Jugendamt allerdings erst mal vor die Tür gesetzt. Er hätte die Einrichtungsmitarbeiter am Telefon bedroht. „Ich war wütend geworden, als ich hörte, was mit meinem Sohn passiert war und dass dies als Unfall bezeichnet wird“, räumt er ein. Inzwischen habe er sich per Whatapp dafür entschuldigt. Trotzdem sucht er eine Beschwerdestelle für den ganzen Vorgang. Von einer Bekannten erhielt Schmidt eine Nummer der Heimaufsicht. Die wählt er, landet aber wieder nur bei der Sachbearbeiterin, die ihn vor die Tür setzte.
Eine Woche später wird David zurück in die Wohngruppe gebracht. Die Vormundin vom Amt wollte es so, berichtet der Vater. Er weiß nichts über die Umstände und ist besorgt. „Wer garantiert mir, dass so etwas nicht wieder passiert?“
Die taz hakt bei Sorina Weiland nach. Die erklärt, der Träger habe bereits „geeignete Maßnahmen getroffen, um zukünftig vergleichbare Eskalationen, in denen ein Kind zu Schaden kommt, vermeiden zu können“. Welche das sind, sollten wir den Träger fragen oder die Aufsichtsbehörde in Kiel.
Astrid Berg*, der Leiterin der Einrichtung, sichern wir zu, dass wir ihren Namen ändern, ebenso wie wir die Namen der Familie ändern. Sie arbeite schon 25 Jahre in der Jugendhilfe, aber einen Vorfall, der „so doll und so blöd ist, habe ich noch nicht erlebt“. Berg selber war nicht vor Ort. „Wir haben einen Fehler gemacht. Wir hätten sofort einen Rettungswagen rufen sollen“, sagt sie. Künftig sei gesichert, dass das passiert. Das andere Kind sei nicht mehr in der Wohngruppe. „Das ist schade, weil es eigentlich integriert war.“ Es brauche eine andere Hilfe.
Keine Auskunft zum Einzelfall
An dem besagten Freitagnachmittag sei ein Kollege mit drei Kindern und zwei Jugendlichen in der Gruppe allein gewesen. Da die zwei 16 und 17 Jahre alt sind, wäre das vertretbar. Der Kollege habe kurz ans Telefon gemusst, als der Vorfall passierte. David hab sehr geweint und zur Mutter gewollt. „Deswegen haben die Kollegen ihn hingefahren.“
Hamburg bringt fast die Hälfte seiner Heimkinder außerhalb der Stadt unter. „Die Kinder sind hier nicht so im Blick“, sagt Ronald Priess, Jugendreferent der Hamburger Linksfraktion. Die Sozialbehörde verweist denn auch mit allen Fragen nach Kiel. Das dortige Sozialministerium erhielt Meldung von dem Vorfall, äußert sich nicht zu Details. Nach den von der Trägerin übermittelten Daten gebe es „keinen Hinweis darauf, dass die Aufsichtspflicht zum entsprechenden Zeitpunkt nicht gewährleistet war“, so Sprecher Eugen Witte. Zu Ereignis und Konsequenzen könne man auch wegen „schutzwürdiger Interessen“ der Kinder nichts sagen.
Die Polizei hat den Vorgang bereits an die Staatsanwaltschaft abgegeben. Dort liegt laut Sprecherin Nana Frombach nur die Anzeige gegen das Kind vor. Die Sache werde voraussichtlich eingestellt, „weil gegen Kinder nicht ermittelt werden darf“.
Mark Schmidt hat inzwischen mit seinem Sohn telefoniert. „Es geht ihm gut“, sagt er. Und er hat einen Termin bei seiner Anwältin. Er will versuchen, das Sorgerecht zu bekommen.*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit