Gewalt in Coronazeiten: Kinderschutz in der Krise
Kinder, die in Familien sexuelle Gewalt erleben, sind besonders schutzlos. Auch ihren Helfern fehlt die Lobby.
A m 16. März 2020 beschließt Hamburg die weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens. Auch in den Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt steht plötzlich alles still: Das Telefon klingelt nicht mehr, persönliche Beratungen und alle Präventionsprojekte müssen abgesagt werden. Wie können betroffene Kinder und Jugendliche erreicht werden? Wie kann der Schutz sichergestellt werden? Von null auf gleich muss alles umgestellt werden. Im Zuge der für alle belastenden Situation zeigt sich schnell, dass Gewaltschutzeinrichtungen und der Kinderschutz eher nicht im Fokus der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen stehen.
In dieser gesellschaftlichen Krisenzeit – gekennzeichnet durch Isolation, räumliche Enge, (Existenz-)Ängste und wirtschaftliche Unsicherheit – ist eine Zunahme an innerfamiliärer (sexualisierter) Gewalt zu befürchten. Familien sind rund um die Uhr zu Hause, Möglichkeiten des Stressabbaus und Ausgleichs entfallen, gleichzeitig steigt der Druck, der dann oftmals an den Kleinsten und Schwächsten abgelassen wird. Kinder und Jugendliche haben kaum bis gar keine Kontakt- und Bezugspersonen außerhalb ihres familiären Systems. An wen können sie sich jetzt wenden, wenn ihr Zuhause kein sicherer Ort ist?
Bei den unabhängigen Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt finden Ratsuchende Hilfe, doch die oftmals wichtigen persönlichen Kontakte im Schutzraum der Beratungsstelle entfallen. Auch laufende Fälle und Verdachtsabklärungen liegen still. Fachkräfte aus Kitas, Schulen, stationären Einrichtungen oder Jugendämtern, mit denen eine fallbezogene Kooperation unabdingbar ist, sind kaum noch zu erreichen oder auch sie haben keinen Kontakt zu ihren Klient*innen. Die Sorge nimmt bei allen zu. Neben der persönlichen Beratungsarbeit entfallen auch schlagartig alle Präventions- und Fortbildungsveranstaltungen. Ein wichtiger Pfeiler der Beratungsstellenarbeit, da Prävention, Aufklärung und Sensibilisierung erwiesenermaßen dazu beitragen, Missbrauch aufzudecken und zu beenden.
Julian ist ein Junge, um den es schon häufig in der Fachberatung ging. Bei ihm besteht der Verdacht des innerfamiliären Missbrauchs. Die Pädagog*innen, die uns regelmäßig um Rat fragen, machen sich Sorgen: Julians Mutter hat einen neuen Weg gefunden, um ihn vor dem Hilfesystem zu verstecken. Die Familie gehöre angeblich einer Risikogruppe an und könne keine Kontakte zulassen. Julian verschwindet damit vom Radar. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, oftmals gekennzeichnet durch Tabuisierung und auch Wegschauen, rückt in der aktuellen Lage noch mehr ins Dunkelfeld. Denn sie findet zumeist im familiären Rahmen statt, die Täter*innen sind die engsten Angehörigen und nun häufig mit ihren Opfern in der Isolation.
arbeitet in den Beratungsstellen basis-praevent und Zündfunke e. V. in Hamburg.
arbeitet in den Beratungsstellen basis-praevent und Zündfunke e. V. in Hamburg.
So wie bei Ella (10 Jahre). Sie ruft regelmäßig an. Anfangs legt sie immer wieder auf oder flüstert nur in den Hörer. Nach einigen Wochen und regelmäßigen Telefonaten baut sich langsam ein Vertrauensverhältnis auf. Ella ist gemeinsam mit ihren Geschwistern den Wutausbrüchen und sexuellen Übergriffen des Vaters ausgeliefert. Für Ella ist es in ihrer aktuellen Situation kaum möglich, etwas zu tun, zu groß ist die Angst. Abgesehen von ihrem Namen möchte sie keine Daten nennen. Bis heute sind wir nur im telefonischen Kontakt.
Wie geht es für Julian und Ella und viele andere Kinder weiter? Fast zwei Monate nach dem Lockdown zeigt sich in den Beratungsstellen, was befürchtet wurde: ein enormer Anstieg an Anrufen und Fallanfragen. Wie eine an Geschwindigkeit zunehmende Lawine rollen die Fälle und Verdachtsabklärungen auf uns zu. Wir sind und wir bleiben da – fragen uns aber, wie wir den Ansturm auffangen sollen, da unsere Arbeitskapazität nach wie vor eingeschränkt ist.
Im Konjunkturprogramm fehlt der Kinderschutz
Die letzten Wochen haben die Frage aufgeworfen, wer oder was in unserer Gesellschaft systemrelevant ist. Es ist skandalös, dass im aktuellen Konjunkturprogramm der Bundesregierung der Kinderschutz wieder nicht mitgedacht wurde. Seit Jahren fordern Expert*innen und Fachkräfte, nicht auf die nächsten Missbrauchsskandale wie in Staufen oder Lügde zu warten, sondern stattdessen ein umfassendes Kinderschutzpaket zu verabschieden, das Prävention stärkt sowie ausreichend finanziell gesicherte Interventions- und Unterstützungsangebote bereithält. Gerade im ländlichen Raum, für betroffene Jungen sowie für Erwachsene ist das Hilfsangebot nicht ausreichend. Eine schnelle, niedrigschwellige Hilfe bei diesem ohnehin tabuisierten und schambesetzten Thema ist unabdingbar.
Seit 2011 existiert auf Bundesebene das Amt des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs. Ähnliches fordern wir auf Ebene der Länder, die für die Finanzierung der jeweiligen Hilfesysteme zuständig sind. Ein derartiges Amt kann Hilfsangebote und -forderungen lokal bündeln, das Thema mit einer anderen politischen und gesellschaftlichen Erreichbarkeit in die Öffentlichkeit bringen, auf die Bedarfe von Betroffenen aufmerksam machen sowie uns Mitarbeiter*innen der Fachberatungsstellen den Rücken freihalten. Gerade die letzten Monate haben uns einmal mehr vor Augen geführt, wie defizitär das Hilfesystem für betroffene Jungen und Mädchen ist.
Wenn wir auf die aktuelle politische Diskussion blicken, sehen wir in die nächste Zeit mit sehr gemischten Gefühlen. Neben dem Aufarbeiten der letzten Monate befürchten wir eine Diskussion über Einsparungen von Staatsausgaben. Dass Kinderschutz keine große Lobby hat, ist durch das Konjunkturpaket einmal mehr deutlich geworden. Dabei wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt, ein umfassendes Kinderschutzsystem auf den Weg zu bringen.
Damit es nicht bald allzu oft heißt: Julian und Ella, für euch haben wir leider gerade keine Kapazitäten.
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