Gewalt gegen Menschen mit Behinderung: Ein Recht auf Rechtsschutz
Die Angestellte einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wirft ihrem Chef Belästigung vor. Doch das Verfahren wird eingestellt, weil sie angeblich nicht aussagefähig sei.
Vor allem aber, weil Sonja M. deshalb der angemessene Zugang zu Rechtsschutz verwehrt wurde. An diesem Montag legen ihre Rechtsanwält*innen sowie mehrere Unterstützerinnen dagegen Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgerichtshof Berlin ein. „Was Sonja M. widerfahren ist, ist so diskriminierend“, sagt Rechtsanwält*in Ronska Grimm. Und es ist absolut kein Einzelfall.
Ronska Grimm erzählt der taz, was Sonja M. im Rechtssystem erlebt hat. Grimm hat bereits mehrere Frauen in ähnlichen Fällen begleitet. Frauen mit Behinderung sind im besonderen Maße von sexualisierter Gewalt betroffen. Dies gilt laut einer 2013 veröffentlichten Umfrage des Bundesfamilienministeriums umso mehr, wenn sie in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung leben oder arbeiten. Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt fordern für diese besonders bedrohte Gruppe nicht nur die Etablierung eines effektiven Gewaltschutzes ein, sondern auch den gleichberechtigten Zugang zum Rechtssystem. „Ausgerechnet eine der am stärksten von sexualisierter Gewalt betroffenen Gruppen wird von Polizei und Justiz massiv diskriminiert“, sagt Lea Beckmann, ebenfalls beteiligte Rechtsanwältin und Antidiskriminierungsexpertin.
Im Oktober 2020 erstattet sie Anzeige
Sonja M. hat den Mut gefunden, den Werkstattbetrieb mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung zu konfrontieren. Im Oktober 2020 erstatten Sonja M. und ihre Mutter als rechtliche Betreuerin Anzeige.
Da, so erzählt es Grimm, beginnen bereits die Unzumutbarkeiten. Erst im Februar, vier Monate nach der Anzeige, kommt es zur Vernehmung durch die Polizei – die nur auf Druck von Rechtsanwält*in Grimm auf Video aufgenommen wird. Die Staatsanwaltschaft beauftragt ein aussagepsychologisches Gutachten. Das wird bei Kindern und Menschen mit kognitiven und psychosozialen Beeinträchtigungen regelmäßig gemacht. Festgestellt werden soll, ob die Person in der Lage ist, Informationen wahrzunehmen und wiederzugeben, also aussagefähig ist. Erst dann wird geprüft, ob die Aussage glaubhaft ist.
Doch die Person, die Sonja M. begutachtet, hatte laut Grimm keinerlei behindertenspezifisches Fachwissen. Sie verwendete Tests für Grundschulkinder. Die 26-jährige Sonja M., der eine leichte bis mittlere Intelligenzminderung diagnostiziert ist, habe unter anderem bunte Stifte heraussuchen müssen. Sie sei geduzt worden und habe die Gutachterin siezen müssen. Vor allem aber habe die Begutachtung nicht in Leichter Sprache stattgefunden – obwohl Rechtsanwält*in Grimm das eingefordert hatte. Es sei dem Protokoll zu entnehmen, dass Sonja M. die wechselnden Aufgabenstellungen nicht immer klar waren und dass sie sich in der Befragung offensichtlich unwohl fühlte.
Sonja M. sagte bei der Polizei mehrere Stunden aus
Nach über drei Stunden habe die Gutachterin abgebrochen, weil Sonja M. weinend sagte, sie könne nicht mehr. Das wurde ihr von der Gutachterin als emotionale Instabilität ausgelegt. Sie kommt zu dem Schluss, dass Sonja M. nicht aussagefähig sei.
Eigentlich, so Rechtsanwält*in Grimm, stehe die Aussagefähigkeit nur bei Personen mit schwerer kognitiver Beeinträchtigung oder weit fortgeschrittener Demenz überhaupt in Frage. Und nicht bei Personen wie Sonja M., die bei der polizeilichen Vernehmung eine stimmige, mehrstündige Aussage gemacht habe. „Ihr die Aussagefähigkeit abzusprechen, das ist so schlimm, das kann man so nicht stehen lassen“, sagt Grimm.
Das Gutachten sei so offensichtlich mangelhaft gewesen, dass es auch der Staatsanwaltschaft hätte auffallen müssen. Diese stellt aber die Ermittlungen mit Verweis auf das Gutachten ein. Grimm legt Beschwerde ein, doch die Generalstaatsanwaltschaft schmettert auch diese mit Verweis auf das Gutachten ab.
Auch mit einem Klageerzwingungsverfahren haben Sonja M. und Grimm keinen Erfolg. Die Hürden sind hier enorm hoch, statistisch gesehen haben diese Verfahren nahezu nie Erfolg. Der normale Rechtsweg ist damit ausgeschöpft.
Kein Einzelfall
In allen ähnlichen Fällen, die Ronska Grimm bisher betreut hat, wurde das Ermittlungsverfahren ebenfalls eingestellt. Grimm ist auch kein Fall bekannt, in dem das anders gewesen wäre. Warum dann jetzt eine Verfassungsbeschwerde?
Viele der Frauen haben an dieser Stelle keine Kraft mehr, erzählt Ronska Grimm. Das Ermittlungsverfahren sei, gerade weil es so durchgeführt wird, wie es in der Regel durchgeführt wird, eine massive Belastung. Aber für Sonja M. sei dies „ein krasses Gefühl, faktisch rechtlos zu sein“. Eine Person, der die Aussagefähigkeit abgesprochen wird – sie kann im System der Strafverfolgung nicht mehr für sich sprechen.
„Das bedeutet“, sagt Grimm, „dass im Grunde von vornherein feststeht, dass die Täter nicht belangt werden“. Dass das der Regelfall ist bei Aussage-gegen-Aussage-Verfahren, in denen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen betroffen sind, das will Rechtsanwält*in Grimm nicht weiter durchgehen lassen.
Weil dieser Fall so exemplarisch ist, hat sich ein Netz von Unterstützer*innen darum gesponnen. Vertreten wird die Verfassungsbeschwerde auch durch Rechtsanwältin Lea Beckmann und durch Theresia Degener, Professorin für Recht und Disability Studies und ehemaliges Mitglied im UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Begleitet wird der Fall außerdem durch den Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), die Selbstvertretungsorganisation für Frauen mit Behinderungen Weibernetz e.V. sowie das Zentrum für Disability Studies (BODYS) an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.
Eine menschenrechtliche Problemlage
„Das ist ein strukturelles Problem, das eine große Gruppe von Menschen betrifft“, sagt Beckmann. Es handele sich um eine menschenrechtliche Problemlage, in der Sonja M. und andere Betroffene sexualisierter Gewalt fast vollkommen schutzlos gestellt werden. „Wir versuchen, mit diesem Fall etwas aufzurollen.“
Das Ziel ist klar definiert und wird auch schon in der UN-Behindertenrechtskonvention, die die Bundesregierung rechtsverbindlich unterzeichnet hat, verbürgt: Bei Staatsanwaltschaft und Polizei müsse es Leitfäden geben, wie ein Ermittlungsverfahren Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gerecht werden kann. Es brauche spezielle Schulungen sowohl für die Personen, die befragen, als auch für die, die in Staatsanwaltschaften beurteilen müssen, ob eine Befragung angemessen verlaufen ist. Es müsse einen Pool mit Gutachter*innen geben, die über eine entsprechende Expertise in der Begutachtung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung verfügen – und sie nicht mit Kindern gleichsetzen und gleichzeitig völlig überfordern. „Nur dann kann eine Aussage gleichberechtigt gewürdigt werden“, sagt Beckmann.
Nach Kenntnis der Akteur*innen ist das die erste Verfassungsbeschwerde, die dieses Recht für Menschen mit kognitiven Behinderungen einfordert. Wenn das Landesverfassungsgericht die offensichtlichen Mängel nicht anerkennt und entsprechende Vorgaben an die Ermittlungsbehörden stellt, dann schrecken die Initiator*innen auch vor dem Gang an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht zurück.
Der Fall Sonja M. erhelle einen Bereich enormer, menschenrechtswidriger Diskriminierung, sagt Beckmann. „Das wird Strahlkraft für die ganze Bundesrepublik haben.“
*der Name wurde geändert, weil die Beschwerdeführerin anonym bleiben möchte
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