Gesundheitskrise in Venezuela: Zur Mutterschaft gezwungen
Verhütungsmittel sind knapp in Venezuela, Die Zahl der ungewollten Schwangerschaften steigt. Für viele junge Frauen ist das oft lebensgefährlich.
Die erfahrene Ärztin hat 104 der weichen Kunststoffstäbchen dabei, die am Oberarm unter die Haut geschoben werden. Das wird nicht für alle reichen. Als Medizinerin an der größten Kinderklinik des Landes weiß sie aus erster Hand, welche Konsequenzen das für diejenigen hat, die leer ausgehen. „Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, der Frustration“, sagt sie.
Frauen bekommen hier die politische und wirtschaftliche Krise besonders zu spüren. Ungeachtet der Versprechen der sozialistischen Regierung, jeder Frau Familienplanung zu ermöglichen, zeigen Erhebungen und Umfragen, dass es nicht genügend Verhütungsmittel gibt.
Internationale Organisationen wie der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen UNFPA hat dieses Jahr mit dem Import Zehntausender Verhütungsmittel begonnen. Doch die Situation hat sich nicht wirklich verbessert. „Die Frauen werden schwanger und haben keine Optionen“, sagt die Frauenrechtlerin Luisa Kislinger. „Sie werden in die Mutterschaft gezwungen.“
„Kein Land, um Kinder zu haben“
Nicol Ramírez ist 15 und schon Mutter. Ihr Name steht auf der Liste von Dr. Clemente. Doch um das Implantat zu bekommen, muss sie einen negativen Schwangerschaftstest vorweisen. Sie und ihre ältere Schwester rufen hektisch ihre Mutter an. Sie brauchen sofort 40.000 Bolivar, das sind knapp drei Euro, für den Test in einem nahegelegenen Labor. „Die Lage in diesem Land ist keine, um Kinder zu haben“, sagt sie, während sie ihr Töchterchen auf der Hüfte wiegt. „Ich bin ja selbst noch ein Mädchen.“
Unter dem verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez waren die Unterstützungsleistungen für arme Mütter deutlich erhöht worden. In der Verfassung von 1999 wurde Frauen unter anderem der volle Zugang zur Familienplanung versprochen. Doch es ging nur langsam voran. Studien belegen, dass die Zahl der Schwangerschaften von Teenagern auch unter Chávez stetig stieg.
Der amtierende Präsident Nicolás Maduro konnte die Agenda seines Vorgängers nicht vorantreiben. Das Land leidet unter einer verheerenden Wirtschaftskrise. Für die Frauen kam es noch schlimmer: Erhebungen zufolge stieg die Müttersterblichkeit zwischen 2015 und 2016 auf über 65 Prozent. „Unter Maduro haben wir einen nie dagewesenen Rückschlag erlebt“, sagt Kislinger.
Nachdem Maduro über Jahre hinweg einen humanitäre Krise bestritten hatte, ließ er kürzlich internationale Hilfe zu. Ein großer Teil davon bezieht sich auf Lebensmittel und Medizin. Nur ein Bruchteil geht in den Bereich Fortpflanzungsgesundheit.
Geflüchtete Frauen werden angefeindet
Unter den Millionen Venezolanern, die sich zur Flucht ins Nachbarland Kolumbien entschieden haben, sind Tausende schwangere Frauen. Dort brachten mehr als 26.000 venezolanische Frauen seit August 2015 Kinder zur Welt. Das ist eine große Belastung für das ohnehin fragile Gesundheitssystem des Landes – und es stellt die überwiegend große Gastfreundschaft zunehmend auf eine Belastungsprobe.
„Wenn ihr euch weiter so fortpflanzt wie bisher, wird es noch schwerer, euch als Chance für Wachstum und nicht als Problem zu sehen“, schrieb die bekannte kolumbianische Kolumnistin Claudia Palacios kürzlich.
Ramírez war 14, als sie ihre Schwangerschaft bemerkte. Ihr Freund, der 23 Jahre alt und bereits Vater war, reagierte kühl. Er könne keine weitere Verantwortung übernehmen, sagte er. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.
Gerade für junge Mütter unter 15 sind die Risiken groß. Die Gefahr, während der Schwangerschaft zu sterben, ist doppelt so hoch, wie bei älteren Müttern. Obwohl Ramirez während der Schwangerschaft medizinisch betreut wurde, mussten die Ärzte ihr Kind mit einem Notkaiserschnitt holen. Der Herzschlag des Babys war unregelmäßig geworden. „Sie wurde quasi tot geboren“, sagt Ramírez mit trauriger Stimme.
In der Klinik von Caucaguita gibt es um 11.30 Uhr keine Verhütungsmittel mehr. „Die Implantate sind ausgegangen“, ruft einer der Organisatoren in einem verwaschenen T-Shirt. Knapp 40 Frauen stehen da noch in der Warteschlange. Einige seufzen. Andere sind wütend.
Die letzten Glücklichen
Ramírez und ihre Schwester gehören zu den letzten Glücklichen, die noch ein Implantat ergattern, weil sie Clemente doch noch ihren negativen Schwangerschaftstest vorweisen konnten. Ihre Mutter hat es irgendwie geschafft, das Geld dafür aufzutreiben. Drei andere Frauen erfuhren an diesem Tag, dass sie schwanger sind.
Ramírez zuckt kurz zusammen, als ihr eine Krankenschwester eine Betäubungsspritze gibt, damit das Implantat schmerzfrei eingeführt werden kann. Kurz danach gehen die Lichter im Krankenhaus aus. Es ist bereits der zweite Stromausfall in dem Stadtviertel innerhalb einer Woche.
Ramírez verlässt die dunkle Klinik mit ihrem Baby im Arm, erleichtert zu wissen, dass sie so schnell nicht wieder Mutter werden wird. „Ich bin nicht so weit, ein Kind zu haben“, sagt sie, als ihr Baby anfängt zu weinen. „Ich bin ein 15 Jahre altes Mädchen.“
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