Gesundheitsforscher über Krankenhäuser: „Schließungen sind keine Lösung“
Karl-Heinz Wehkamp erklärt, warum die Krankenhäuser nicht weniger werden sollten und kleine Häuser nicht schlechter sein müssen als große.
taz: Herr Wehkamp, wie steht das deutsche Gesundheitssystem in Coronazeiten da?
Karl-Heinz Wehkamp: Die Bundesrepublik schlägt sich international in Bezug auf die Coronakrise recht gut. Dazu tragen die Public-Health-Kompetenz der Regierung bei und dass viele Menschen die Botschaft verstanden haben. Auch das Gesundheitssystem bringt Vorzüge mit: Viele Patienten wurden schon im Hausärztesystem aufgefangen und gut erstbehandelt. Die niedrigere Sterblichkeit liegt auch an den Krankenhäusern.
Sind die Kliniken also gar nicht kaputtgespart, wie Sie mal behauptet haben?
Unter extrem hohem persönlichen Einsatz der Mitarbeiter leisten die Krankenhäuser bisher gute Arbeit. Aber viele mussten dafür zusätzliche finanzielle Unterstützung vom Staat anfordern. Im Fallpauschalensystem gibt es keine ausreichenden Mittel, um mit einer Krise zurechtzukommen – und schon vor Corona haben sich viele Krankenhäuser in Insolvenzgefahr befunden. Wenn nicht der Wille bestünde, außergewöhnliche Finanzierungshilfen zu gewähren, würden gerade viele Kliniken vom sogenannten Krankenhausmarkt verschwinden.
Letztes Jahr wurde in einer Bertelsmann-Studie gefordert, die Zahl der Krankenhäuser zu reduzieren, um die Qualität zu erhöhen. Vielleicht wäre es gar nicht schlimm, wenn kleine Kliniken schließen müssten?
Bis zur Coronakrise war von Überkapazitäten die Rede, wenn irgendwo Intensivbetten frei waren. Nun ist man froh, in dieser Hinsicht in Deutschland gut aufgestellt zu sein. Ein schrittweises Krankenhaussterben nach ökonomischen Gesichtspunkten kann nicht die Lösung sein. Das Ziel muss eine wohnortnahe, menschengerechte Versorgung sein. Wenn man Kliniken schließt, braucht man entsprechende Alternativen.
Aber man könnte Kliniken schließen und durch Gesundheitszentren ersetzen?
Es gibt Argumente für die Verringerung: Schlechte Krankenhäuser können tatsächlich zu Fallen für Patienten werden, wenn sie dort nicht die Versorgung bekommen, die nötig wäre. Die Qualität bemisst sich aber nicht zwangsläufig nach klein oder groß.
71, Arzt und Soziologe, Professor für Public-/Global Health und Gesundheitsethik in Hamburg und Berlin sowie für Gesundheitsmanagement in Bremen.
Kleine Krankenhäuser schneiden laut Bertelsmann-Studie schlechter ab.
Ja, die gemessenen Ergebnisse sind oft schlechter. Aber das ist eine Korrelation, keine Kausalität. Es gibt kein Naturgesetz, wonach die Qualität der Versorgung von der Größe abhängt. Tatsächlich sind unter den aktuellen Wettbewerbsbedingungen kleinere Häuser oft unzureichend ausgestattet. Wären kleine Kliniken personell und materiell besser gestellt, würde auch die Qualität stimmen. Die Frage, ob groß oder klein, ist falsch gestellt. Einheiten unterschiedlicher Größe und Art müssten durch Kooperation Netzwerke bilden. Die Lösung liegt in der Spezialisierung. In Bayern sind viele kleine Krankenhäuser jeweils in einem Gebiet hoch spezialisiert.
In Dänemark soll die Bevölkerung mit nur acht Großkliniken versorgt werden.
Das dänische Modell ist ein noch nicht abgeschlossenes Experiment im Rahmen eines staatlichen und steuerfinanzierten Systems. Von daher ist es schwer übertragbar. Die Konzentration auf wenige Standorte verlängert die Anfahrzeiten, ein Problem für die ländlichen Regionen. Minuten können über Leben und Tod entscheiden. Schließlich beruht das dänische System auf einer maximalen Digitalisierung aller Prozesse, was sicherlich der Wirtschaft dient, was aber auch sehr störanfällig sein kann.
Was stört Sie an der Digitalisierung?
Der Anspruch einer totalen digitalen Kontrolle aller Prozesse, Geräte und Mitarbeiter. Mir wäre es lieber, wenn der Gedanke der Gesundheitsförderung bezogen auf Patienten und Personal und die menschliche Zugewandtheit im Vordergrund stünden. Ich befürchte eine fabrikmäßige Ökonomisierung unterm Primat der Effizienz, also ein Fabrikmodell unter betriebswirtschaftlicher und ingenieurstechnischer Führung. Aber vielleicht liege ich da auch falsch. Mir persönlich ist Dänemark jedenfalls bislang kein Vorbild.
Ist die Forderung nach zentralen Krankenhäusern denn aus epidemiologischer Sicht noch zeitgemäß?
In der Wirtschaft gehen die Trends in Richtung Konzentration, unter dem Gesichtspunkt drohender Infektionen müsste es bei Krankenhäusern umgekehrt sein. In Zeiten von Louis Pasteur und Robert Koch, den großen Forschern zu den Infektionskrankheiten, wurden Krankenhäuser im Pavillonstil gebaut, da man davon ausging, dass sich Infektionen in zentralen Häusern gefährlich schnell verbreiten könnten. Man sieht das noch allerorten: in Hamburg-Eppendorf, in Ochsenzoll, auch in Bremen-Mitte und -Ost.
Was hat sich seitdem geändert?
Seit den Siebzigerjahren wurden Krankenhäuser nur noch als große Zentralen gebaut – die sind leichter zu organisieren, effizienter und damit scheinbar wirtschaftlicher. Es scheint sich die Meinung durchgesetzt zu haben, dass die Menschheit nun die Infektionskrankheiten endgültig besiegt habe. Die aufkommenden Antibiotikaresistenzen, Aids, fortbestehende Grippe- und Masernepidemien haben uns das Gegenteil gelehrt.Wenn nun wegen Corona ganze Abteilungen geschlossen werden, zeigen sich die Vorteile der kleineren Einheiten.
Die drei Krankenhäuser Emden, Aurich und Norden sollen bald durch ein neues zentrales Haus ersetzt werden. Die Bevölkerung hat 2019 dafür gestimmt.
In Aurich wurde mit schwacher Mehrheit dafür gestimmt, in Emden gab es zunächst eine Volksabstimmung dagegen und erst unter erheblichem Druck und Einschüchterung der Bevölkerung kam es zu einer knappen Mehrheit. Der Bürgermeister und andere Entscheidungsträger drohten, andernfalls würde es in der Region gar keine medizinische Versorgung mehr geben. Nach wie vor gibt es Bürgerproteste gegen das Zentralklinikum.
Was wäre denn eine Alternative?
Ich habe für einen Kooperationsverbund der drei Häuser plädiert, in dem jedes Haus spezielle Expertise hat. Ein Zentralklinikum in einem Dorf in der Mitte ist kein attraktiver Ort für das Personal, die Anfahrtswege nehmen zu viel Zeit in Anspruch. Es gibt mehrere Beispiele von Verbundkliniken in ähnlich weit voneinander entfernten Städten mit abgestimmter Arbeitsteilung und ausreichendem wirtschaftlichem Erfolg unter Wahrung der Wohnortnähe.
Aber kann eine so rar besiedelte Region wirklich drei Krankenhäuser betreiben?
Emden hat gut 50.000 Einwohner, Aurich 40.000, Norden 30.000, dazu kommen die Landkreise und die Inseln mit hohen Touristenzahlen. Von einer Überversorgung kann da keine Rede sein, drei Häuser sind wirklich nicht zu viel. Ich gehe davon aus, dass ein Zentralklinikum auf dem platten Land die Versorgung nicht verbessert. Stattdessen gibt es längere Transportzeiten für Patienten und Angehörige, wesentlich mehr Individualverkehr, größere Probleme der Personalgewinnung und Verluste für die städtische Infrastruktur. Immerhin gehören Krankenhäuser zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Und wenn die knappen Geldmittel in den Neubau fließen, der sehr viele Jahre braucht bis zur Fertigstellung, dann stehen für die nötigen Instandhaltungsinvestitionen nicht genug Mittel zur Verfügung.
Was ist, wenn Patienten mehrere Erkrankungen gleichzeitig haben? Ist es in kleineren Spezialkrankenhäusern nicht viel komplizierter, Menschen auf die richtigen Stationen zu verlegen?
Dann braucht es eine gute Kommunikation und Koordination zwischen den medizinischen Abteilungen und ein Konzept für Beratungen und Verlegungen, das frei ist von jedweder wirtschaftlichen Überlegung. Es muss nicht jede medizinische Kompetenz an jedem Ort sein. Das jetzige Finanzierungsmodell weist der zuletzt versorgenden Abteilung die höhere Einnahme zu, so dass es zu einer Konkurrenz um diese Fälle kommen kann– sogar innerhalb eines Krankenhauses, zwischen zwei Abteilungen.
Wenn Sie sich ein Gesundheitssystem basteln dürften – wie sähe es aus?
Das Fundament muss geändert werden. Die jetzige Struktur des Gesundheitssystems sieht die Kliniken als Kern einer Gesundheitswirtschaft, die entsprechend auf Gewinnerzielung, Wettbewerb und Wachstum ausgerichtet ist. Eine Senkung von „Gesundheitskosten“ darf es in einer Wachstumsbranche schon gar nicht geben. Unter diesen Rahmenbedingungen haben Großkliniken und Krankenhauskonzerne einen Vorteil. Ob das für die Qualität von Medizin und Pflege mehr Vorteile bringt als ein eher dezentrales, gemeinwirtschaftlich ausgerichtetes Modell wage ich zu bezweifeln. Der betriebswirtschaftliche Gewinn sollte nicht länger der Motor sein, und der Kaufmann sollte nicht länger der Letztentscheider im Krankenhaus sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Autounfälle
Das Tötungsprivileg