Gesundheitsexpertin über WHO: „Kaum noch eigene Prioritäten“

Die Entscheidungsgewalt der Weltgesundheitsorganisation muss gestärkt werden, sagt Anna Holzscheiter. Vor allem die finanzielle Unterstützung reiche nicht aus.

Ein Frau verabreicht einem Kind eine Impfstoffdosis

Polio-Impfung in Pakistan: Die Ausrottung der Kinderlähmung ist eins der großen Ziele der Weltgesundheitsorganisation Foto: dpa

taz: Frau Holzscheiter, wenn die Staats- und Regierungschefs der 20 mächtigsten Wirtschaftsnationen Anfang Juli in Hamburg die Herausforderungen globaler Gesundheitspolitik diskutieren, wird es neben inhaltlichen Zielen wie der Bekämpfung bestimmter Krankheiten oder der Entwicklung von Impfstoffen auch um die Frage gehen, wer diese Herkulesaufgaben mit welcher Legitimation koordinieren kann und soll. Das Feld der Akteure scheint unüberblickbar. Dient diese Vielfalt der Sache?

Anna Holzscheiter: Um im Ernstfall schnell handeln zu können, und darum geht es häufig bei globalen Gesundheitskrisen, sind Transparenz und klare Zuständigkeiten unerlässlich. Über viele Jahre konnte man den Eindruck haben, es wimmele nur so vor öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, humanitären und internationalen Organisationen, privaten Stiftungen und anderen Splittergruppen, die sich gegenseitig auf den Füßen herumtrampelten.

Alle wollten teilhaben an dem – zynisch gesprochen – goldenen Zeitalter globaler Gesundheit, das um die Jahrtausendwende zeitgleich mit der Verkündung der stark gesundheitsfokussierten Milleniumsziele entstand, Stichworte HIV-Bekämpfung, Kindersterblichkeit, Infektionsschutz, Müttergesundheit. Inzwischen versucht die internationale Gemeinschaft, übergelagerte Strukturen zu schaffen, indem man die unterschiedlichen Akteure bündelt und klarmacht, dass etwa Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheit nicht isoliert, sondern zusammen betrachtet werden müssen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Tatsächlich? Bald jede Infektionskrankheit südlich der Sahara hat doch mindestens eine eigene Allianz, ein eigenes Netzwerk oder eine eigene Partnerschaft.

Schon, aber wenn man sich diese – unbestritten vielen – öffentlich-privaten Partnerschaften genauer ansieht, dann stellt man fest, dass es weniger chaotisch zugeht als angenommen, weil die wichtigen Akteure die immer gleichen Pharmaunternehmen und die immer gleichen Stiftungen sind. Einige Regierungen unterstützen inzwischen diese Entwicklung hin zu Überstrukturen: Das International Health Partnership etwa, das Defizite in der Gesundheitswesenfinanzierung beheben soll, wurde 2007 von der britischen Regierung lanciert, mit internationalen Organisationen als Partnern. Deutschland versucht seit einigen Jahren, zusammen mit der WHO für eine bessere Harmonisierung einzutreten.

Ist das eine gute Entwicklung?

Es bleibt abzuwarten, ob sich diese neuen Strukturen als effektiv erweisen werden. Zumindest aber ist es interessant, wegzukommen von dem alten, vertikalen Ansatz, in dem die Fäden einfach nur von oben nach unten verliefen, ohne miteinander verknüpft zu sein. Es lohnt sich meiner Ansicht nach zu fragen, wie man es schaffen kann, Strukturen zu fördern, die Akteure in ein kohärentes Ganzes integrieren.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Professorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft in Berlin. Seit 2015 leitet sie die Nachwuchsgruppe Globale Gesundheitspolitik, die von der Freien Universität Berlin und dem Wissenschaftszentrum Berlin eingerichtet wurde und untersucht, wie internationale Organisationen auf die zunehmende Zersplitterung der Akteurslandschaft in der globalen Gesundheitspolitik reagieren.

Nehmen Sie die Bekämpfung der Polio. Die Weltgesundheitsorganisation hat ihr Ziel, diese fürchterliche Krankheit durch systematisches, flächendeckendes Impfen auszulöschen, fast erreicht. Aber eben nur fast. In Pakistan und Afghanistan wird derzeit unter schwierigsten Sicherheitsbedingungen geimpft, und es hat sich gezeigt, dass man einen teureren Impfstoff verwenden muss, wenn man die Kinderlähmung wirklich ausrotten will. Folglich mussten neue Akteure ins Boot geholt werden; im Fall der Polio waren das die globale Impfallianz Gavi und die Gates Stiftung. Gavi war bereit mitzumachen – unter der Bedingung, dass Polio als singuläres Problem integriert wird in einen breiteren Kontext, der sowohl eine Basisimmunisierung der Kinder als auch eine primäre Gesundheitsvorsorge umfasste.

Damit wurde das ursprünglich ausschließlich auf die Impfung fokussierte Projekt in eine andere, sinnvolle Richtung gelenkt. Es geht nicht mehr um eine rein biomedizinische und technische Lösung, sondern es geht darum, menschliches Verhalten und Lebensbedingungen insgesamt in den Fokus zu nehmen.

Insbesondere kleinere Nicht-Regierungsorganisationen kritisieren die Dominanz der immer gleichen großen Pharmafirmen und der immer gleichen großen Stiftungen als undemokratisch. Haben sie Recht?

Demokratisch kann einerseits bedeuten, dass die jeweiligen nationalen Regierungen stark miteinbezogen werden in die Ausgestaltung der Gesundheitsprogramme. Aber wenn die zivilgesellschaftlichen Akteure auch noch berücksichtigt und demokratisch miteinbezogen werden sollen, wird es heikel. Eher autokratische Regierungen können oft besser die externen Akteure lenken, aber sie haben kein Interesse, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligen.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Weltgesundheitsorganisation? Hat die WHO angesichts ihrer finanziellen wie personellen Schwäche überhaupt noch eine Chance, eigene und wahrnehmbare Akzente zu setzen in der globalen Gesundheitspolitik?

Ungeachtet der Tatsache, dass die WHO in der verheerenden Ebola-Epidemie 2014/2015 in Westafrika schlecht und verspätet reagiert hat und ihre Führung in dieser Krise sehr schlecht kommuniziert hat, vergisst man oft, dass die Mitgliedsstaaten der WHO ausgerechnet in dem Haushaltsjahr vor dem Ebola-Ausbruch den Etat für outbreak and emergency response um 50 Prozent gekürzt hatten. Das heißt, dass man genau die Mittel weggenommen hat, die für die Beantwortung dieser Krise essentiell gewesen wären. Dazu kommt: Kurz vor dem Ausbruch der Ebola-Epidemie hatte die WHO einen sogenannten „Gesundheitsnotstand internationalen Ausmaßes“ ausgerufen – aufgrund der rasanten Zunahme von Polio-Infektionen im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralafrika. Das sind Faktoren, die erklären, warum es zu dem Notstand kam. Inzwischen ist klar, dass Ebola vielleicht die große Krise war, die gebraucht wurde, um klarzumachen, dass diese Organisation gestärkt werden muss, vor allem finanziell.

Deutschland hat angekündigt, seine freiwilligen Beiträge an die WHO erhöhen zu wollen. Reicht das?

Das ist gut und richtig, aber das Problem ist: Die WHO hat zu wenig Budget, über das sie selbst verfügen kann. Die Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten, also der Teil des Etats, über dessen Verwendung die WHO frei entscheiden kann, machen nur 20 Prozent des Gesamtbudgets aus. Die übrigen 80 Prozent der WHO-Mittel sind so genannte voluntary contributions, also freiwillige Beiträge von Mitgliedstaaten oder privaten Stiftungen, über deren Einsatz die Mitgliedstaaten oder die privaten Stiftungen bestimmen dürfen. Diese Praxis führt zu einem totalen Autonomieverlust der WHO. Die Weltgesundheitsorganisation kann kaum noch eigene Prioritäten setzen.

Weil Eheleute wie die Gates dank ihrer großzügigen, freiwilligen Beiträge die WHO regieren?

Wir müssen die Balance zwischen den unterschiedlichen Finanzierungsformen wiederherstellen, die Entscheidungsgewalt der WHO muss gestärkt werden. Die freiwilligen Beiträge sind willkommen, aber wenn sie – wie derzeit – dazu führen, dass die WHO für strukturelle Aspekte und für unattraktive, aber unverzichtbare Bereiche wie Monitoring, Datensammlung und -auswertung kein Budget mehr hat, weil alle nur den Außenwirkungseffekt im Auge haben und deswegen nur in bestimmte Antworten auf bestimmte Krankheiten investieren, läuft etwas schief.

Warum ist der Pflichtbeitrag so gering? Haben die Länder kein Interesse, in weltweite Gesundheit zu investieren? Oder wollen sie die WHO schwächen, weil sie sie als Organisation nicht ernst nehmen?

Weder noch. Der Pflichtbeitrag bemisst sich an der Wirtschaftskraft und der Bevölkerungsstärke eines Landes. Es gibt eine Obergrenze für Pflichtbeiträge, anhand derer sichergestellt sein soll, dass Länder nicht übermäßig Einfluss auf die Organisationen und Sonderprogramme der Vereinten Nationen nehmen können. Im Moment ist die WHO mit einer Reform ihrer Finanzierungsstruktur befasst. Vorgesehen ist eine Anhebung der Pflichtbeiträge um zehn Prozent. Dadurch sollen die administrativen Strukturen sowie Transparenz und Rechenschaftspflicht gestärkt werden. Das ist ein Anfang, immerhin.

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