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Gesichtserkennung im NetzDer neue Grusel

Ein US-Start-up hat neue Software zur Gesichtserkennung entwickelt. Grundlage: 3 Milliarden Fotos. Behörden und Unternehmen freuen sich.

Aktion gegen Gesichtserkennung im Bahnhof Südkreuz in Berlin, 2017 Foto: Stefanie Loos

Berlin taz | Dystopie 2040: Smartphones sind längst zu den Wählscheibentelefonen ins Museum gewandert, dafür gehören nun smarte Kontaktlinsen zur Pflichtausstattung der Early Adopters. Diese kleinen Sichtgeräte setzen auf Wunsch die Feeds diverser Online-Netzwerke (fürs Mitredenkönnen) ins Sehfeld, dazu noch ein paar Bäume (fürs Wohlfühlen) und Infos zu der Person, die einem gerade gegenübersteht. Name, Alter, Job, Freunde, Vorlieben, Name des Haustiers – was das Internet halt so ausspuckt.

Ein ziemlicher Albtraum? Auf alle Fälle. Aber die Technik, um genau das möglich zu machen, rückt immer näher. Aktuellster Fall: Clearview AI, ein US-Unternehmen, das drei Milliarden im Internet zugängliche Bilder eingesammelt und daraus eine Bilderkennungsdatenbank gemacht hat, wie eine Recherche der New York Times aufdeckt. Genutzt wird die Datenbank von US-Behörden, die zum Beispiel Verdächtige finden wollen, und auch von Unternehmen – wozu genau, das ist unbekannt.

Das Geschäftsmodell liegt in einem juristischen Graubereich, in dem technisch deutlich mehr geht, als bislang gemacht wird. Symptomatisch dafür ist die Aussage des damaligen Google-Chefs Eric Schmidt vor mittlerweile neun Jahren, dass man eine Bilderkennungsdatenbank nicht aufbauen wolle, selbst wenn das technisch machbar sei. Und im Nachsatz die Prophezeiung: Es werde aber ein anderes Unternehmen geben, das „diese Linie überschreiten wird“. Ja, das hätte sich dann spätestens jetzt bewahrheitet. Zumindest wenn man längst zur Verfügung stehende Technik nicht mitzählt, wie etwa die Rückwärtssuche von Fotos oder das namentliche Taggen in Online-Netzwerken.

Ein Geschäftsmodell wie das von Clearview führt dazu, dass Nut­ze­r:in­nen die Kontrolle über ihre Bilder noch mehr verlieren: Eine Bild-Identitäts-Verknüpfung, einmal im Netz, ist die Grundlage für lebenslange Überwachung. Auch das Altern des Gesichts hilft da nicht viel, schließlich gibt es längst Software, die Fotos entsprechend verändert.

Überwachung, teils selbst gemacht

Dass Google sich in der Sache zurückhaltend gibt, hat wahrscheinlich weniger mit ethischen als mit strategischen Gründen zu tun: Wenn ein Konzern zu früh mit einer gruseligen Technologie an den Start geht, reagiert die Politik mit strenger Regulierung, die man natürlich vermeiden will. Also besser warten, bis die Zeit und vor allem die Menschen reif dafür sind.

Längst wird je­der Mensch fotografiert, und zwar ständig und überall – und wenn es keine Selfies sind, dann eben das Touristenfoto, auf dem auch unbeteiligte Pas­san­t:in­nen zu sehen sind. Ein guter Teil dieser Bilder landet im Netz, wo auf Plattformen wie Facebook Gesichter mit Namen versehen werden können und wo die Software immer besser lernt, wer wer ist. Und das ganz in Ruhe und mit deutlich mehr Material als bei Versuchen im öffentlichen Raum, wo die Erkennungsraten – etwa bei einem Pilotprojekt der Bundespolizei am Berliner Umsteigebahnhof Südkreuz – peinlich schlecht waren.

Auf diesen Misserfolgsquoten kann man sich also leider nicht ausruhen. Der nächste Schritt könnte etwas sein, das Clearview laut der New-York-Times-Autorin schon entwickelt hat, aber nicht auf den Markt bringen will: eine Brille mit entsprechender Vernetzung. Diskreter wären natürlich Kontaktlinsen, Googles Versuch, vor einigen Jahren so etwas wie eine Datenbrille auf den Markt zu bringen, ist schließlich nicht umsonst gefloppt.

Verbot für automatisierte Gesichtserkennung?

Wer Interesse daran haben könnte? Zum Beispiel Sicherheitsbehörden. Bodycams machen jetzt schon Polizeidienststellen glücklich, auch in Deutschland. Wie laut wäre der Jubel, würden die Identitäten der Gefilmten gleich noch dazugeliefert? Klar, das ginge nach aktueller hiesiger Rechtslage nicht. Aber Innenminister sind bekanntlich offen für Gesetzesänderungen, wenn es um Überwachung – Verzeihung, um mehr Sicherheit – geht.

Nun hat die EU-Kommission laut darüber nachgedacht, so etwas zu verhindern. Vor wenigen Tagen wurde ein Arbeitspapier geleakt, in dem ein Verbot automatisierter Gesichtserkennung im öffentlichen Raum für einen beschränkten Zeitraum erwogen wird. Noch ist nichts entschieden. Aber selbst wenn ein Verbot käme, wäre das nicht das Aus für solche Technologien. Es hieße bloß, dass die Zeit noch nicht reif dafür war.

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11 Kommentare

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  • Jahrelang haben auch hier Leute, lustigerweise auch noch kostenlos, ihre Partner, Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen getaggt, Fehler korrigiert und den Datenpool so immer weiter vergrößert und die Datenqualität verbessert.

    Dass das mal kommerziell oder staatlich genutzt werden wird, war jedem klar der nicht mit geistigen Konnektivitätsproblemen zu kämpfen hat.

    Wir müssen nur noch ein paar Jahre warten, dann ist das SCS auch ausgereifter und die BRD muss nur noch die Daten, die Sie ja sowieso in großen Mengen hat einspeißen und dann,...

    schützt der Staat natürlich weiter unsere persönliche Freiheit...

  • Schritt für Schritt in die digitale Dystopie... Die Leute gewöhnen sich an jeden Scheiß und fragen sich dann: "Wie konnte ich ohne Kontaktlinsen, die mir Infos zu meinem Gegenüber liefern, überhaupt mit anderen ins Gespräch kommen? Früher hatte man sich doch gar nichts zu sagen!"



    Wir finden die Vorstellung von digitalen Kontaktlinsen abschreckend, vor 30 - 40 Jahren hätten die meisten eine Welt voller Smartphones als grotesk empfunden, heute denkt jede*r, das wäre (unterm Strich) ziemlich super. Wer hat jetzt das "bessere" Urteilsvermögen, die die sich in kleinen Dosen an die Scheiße gewöhnt haben oder die, die mit selbiger noch nicht in Kontakt gekommen sind?



    Mein Eindruck ist, dass die Akzeptanz des ganzen (digital-)technischen Fortschritt hauptsächlich darauf basiert, dass man sich häppchenweise eben an fast alles gewöhnt und sich darin einlebt. Es ist leider schwer, die Entwicklingungen, die um eine*n herum passieren, dauerhaft infrage zu stellen oder abzulehnen.

  • Fazit: Raus mit dem eigenen Bild aus dem Netz!

    • @Rudolf Fissner:

      Hey, dafür ließe sich die Software doch auch nutzen. Für die Zensur aller Bilder von mir, die irgendwer ohne Zustimmung ins Netz gestellt hat.

  • Aus meiner Sicht ist ein Totalverbot auf Dauer unrealistisch. Zu verlockend ist aus Sicht der Sicherheitsbehörden das langfristige Potential. Klüger wäre es klare Spielregeln für Anwendungen zu schaffen (Einsatzorte, Speicherfristen, Richtervorbehalte, Deliktspektrum, ...) und aus Sicht einer europäischen Bürgergesellschaft gestalten.

    • @Andi S:

      Lieber Andi, es ist erschreckend, nein digitallogisch, dass du Recht hast. Und ich bin übertzeuigt, genau hier liegt unser Bürgerauftrag. Unsere Entscheidung wieder an uns zu nehmen ... und der Verwaltung ihre Grenzen aufzuzeigen. Schönen Tag.

  • Man darf gespannt sein, wie die EU jetzt reagiert. Wenn man es ernst meint mit Datenschutzgrundverordnung und Privatsphäre der eigenen Bürger, dann muss so einer Firma jeglicher Zugang zum europäischen Markt verwehrt werden.

  • Hierzu die Leseempfehlung:



    Shoshana Zuboff 2018, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, FfM: Campus



    und Kai Schlieter 2016 Die Herrschaftsformel: Big Data aufs Leben, Westend.

    • @nzuli sana:

      Ist das nicht eine - siehe China - kommunistische Erfindung? Dort ist man Vorreiter.

      • @Rudolf Fissner:

        Denken in Assoziation und Labels ist ja in Mose, aber (um Ihren Sprachduktus aufzugreifen):

        Ist das nicht eine – siehe Investor Peter Thiel – kapitalistische Firma und die Geilheit auf Überwachung der Untertanen generell eine Idee, auf die sich Autoritäre jedweder Couleur einigen können?

        • @Volker Maerz:

          Moses: "Wurde der Marxismus - siehe Engels - nicht vom Kapitalismus erfunden?"

          Ansonsten ja. Auch das könnte als Kritik auf die einseitige Sicht des genannten Buches so stehen gelassen werden.