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Geraldine Rauch und der AntisemitismusZweierlei Maß

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Kein Missverständnis: Es gibt realen Antisemitismus. Aber es ist zweifelhaft, ob ein in­stru­men­tel­ler Antiantisemitismus daran etwas ändert.

Bleibt stur und tritt nicht zurück: Geraldine Rauch Foto: Jens Kalaene/dpa

F riedrich Merz kämpft gegen „die Feinde unserer Freiheit“ und „tief sitzenden Antisemitismus“. Deshalb müsse, so der CDU-Mann, der Bundeskanzler Geraldine Rauch, die Präsidentin der TU Berlin, aus dem Zukunftsrat der Regierung entfernen. Rauch hatte einen Tweet gelikt, der Netanjahu mit NS-Symbolen assoziiert. Das ist antisemitisch, weil es Schuldumkehr suggeriert. Rauch hat indes glaubhaft beteuert, die Bildsprache übersehen zu haben, sich entschuldigt und ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst eingeleitet.

Merz’ Kampfesmut war in der Affäre ­Aiwanger nicht ganz so ausgeprägt. Der hatte als Schüler auf einem Flugblatt Nazi­opfer verhöhnt und wand sich mit windigen Ausreden heraus. Söder ließ ihm trotzdem seinen Job als bayerischer Vizeministerpräsident. Merz fand das 2023 „bravourös“. Das Doppelmoral zu nennen, ist eine eher zurückhaltende Formulierung.

Die Kampagne gegen Rauch, angefacht von Springer und CDU, läuft auf Hochtouren. Das Ziel: Sie muss weg. Eine trübe Rolle spielt dabei der Berliner Antisemitismus­beauftragte, der behauptet, Rauch habe „haufenweise antisemitische Tweets“ gelikt. Beleg? Fehlanzeige. So funktionieren Hetzjagden. Der Fall Rauch zeigt, dass der Antisemitismusdiskurs in Deutschland in einer Sackgasse steckt. Er scheint beliebig zu werden, auch weil der Antisemitismus­begriff mitunter extrem ausgeweitet wird und entschiedene Kritik an Israel mit einschließt. Der Kampf gegen Antisemitismus à la Merz ist ein Mix aus moralischer Selbstüberhöhung und Instrumentalisierung, um politische Gegner zu bekämpfen.

Schauen wir auf das größere Bild. In Deutschland werden 2024 Pro-Palästina-Proteste in Unis von der Polizei geräumt. Ein Pro-Palästina Kongress wurde auf rechtlich mehr als fragwürdiger Grundlage verboten. Es hat seit dem Deutschen Herbst keine so rabiaten Einschnitte in die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit mehr gegeben. Anders als 1977 gibt es allerdings kaum Liberale, die die stickige Diskursverengung und die neoautoritäre staatliche Praxis kritisieren. Dabei ist gerade wegen der Polarisierung in Sachen Gaza und Israel freier Diskurs nötiger denn je.

Was hilft wirklich gegen Antisemitismus?

Kein Missverständnis: Es gibt realen Antisemitismus. Dass jüdische Menschen sich mancherorts nicht trauen, mit jüdischen Symbolen auf die Straße zu gehen, ist unerträglich. Aber es ist zweifelhaft, ob ein in­stru­men­tel­ler Antiantisemitismus und rüde Obrigkeitsstaatlichkeit daran etwas ändern.

Im Fall Rauch soll ein Exempel statuiert werden. Dass die TU-Präsidentin sich dem vorgefassten Drehbuch widersetzt und nicht freiwillig zurücktreten will, ist ein gutes Zeichen. Sie hätte mehr Unterstützung verdient.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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16 Kommentare

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  • Moderation , Moderator

    Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen. Wenn die Diskussionen ausfallend werden, zu weit vom Thema abweichen, oder die Zahl der Kommentare zu groß wird, wird das manchmal leider nötig. Sonst können wir die Kommentare nicht mehr zeitnah moderieren. 

  • Warum ist das eigentlich so kompliziert?

    Die demokratische Legitimation pro-palästinensischer Proteste endet dort, wo sie das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Dieses Existenzrecht ist keine(!) Meinung sondern eine Tatsachenwahrheit. Es basiert auf der faktischen Anerkennung durch die Vereinten Nationen.

  • Vielen Dank!

  • Äh, vergleichbar wir hier wirklich die Taten eines 18 jährigen Schülers mit denen einer erwachsenen TU Präsidentin? Ok...

  • " Obrgkeitsstaatliche Schroffheit"?



    Der gedrechselt wirkende Begriff verweist auf die mangelnde Substanz.



    Es steht wohl Jedem frei, von wem er sich beraten lassen möchte.



    Offenbar findet die TU Präsidentin Ihr Verhalten vor sich Selbst entschuldbar, Andere sehen das offenbar anders. So auch eine Mehrheit im zuständigen akademischen Senat.



    So sieht es wohl auch der Bundeskanzler, der nun auf die Beratung durch Frau Rauch verzichtet.



    Der Artikelschreiber legt nahe, der Kanzler hätte sich in seiner Entscheidung von Friedrich Merz beeinflussen lassen.



    Das wäre dann allerdings ein Novum, das einen Artikel wert wäre.

  • Wird das jetzt Mode, erst Mist machen und sich dann entschuldigen?



    Wie wäre es mit "vor Inbetriebnahme des Mundwerks Gehirn einschalten"

  • Der Antisemitismus hat in nie da gewesenem Umfang weltweit Fahrt aufgenommen, die Zahl antisemitischer Straftaten ist regelrecht explodiert.

    Jüdische und als pro-israelisch wahrgenommene Einrichtungen, Wohnungen, Lokale, werden mit roten Hamas-Dreiecken markiert oder mit Davidsternen.

    Jüdinnen und Juden können sich noch weniger frei bewegen, als es ohnehin schon der Fall war.

    Universitätsgebäude werden besetzt, verwüstet und mit Terrorsymbolen verschandelt.

    Fast täglich finden propalästinensische Demonstrationen statt, auf denen unverblümter Antisemitismus geäußert wird.

    Kleines Beispiel aus Berlin:

    www.facebook.com/j...s/1159099155513347

    Alles wird sagbar, Antiimperialisten marschieren mit Islamisten.

    Man denkt, das war es jetzt aber und dann kommt noch Schlimmeres.

    Und für Herrn Reinicke ist der Kampf gegen den Antisemitismus in einer Sackgasse gelandet.

    Soll man lachen oder weinen?

  • Es mag sein, dass in vielen Debatten die Begriffe antiisraelisch und antisemitisch oft nicht differenziert genug verwendet werden, allerdings ist der Übergang von antiisraelisch zu antisemitisch (wenn es nicht allein um Kritik an der israelischen Regierung geht, sondern Israels Recht als Staat zu existieren in Frage gestellt wird) doch oft schnell gegeben. Rauch hat allerdings- und das macht mich schon fassungslos - einen Beitrag bei X gelikt, dessen Bildsprache nicht nur eindeutig antisemitisch war, das Account, das diesen Beitrag teilte, ist - um das zu sehen reicht ein Klick auf das Profil - nicht nur einseitig antiisraelisch-propalästinensisch, sondern auch prorussisch. Das Profilbild zeigt Putin und die russische Fahne neben der palästinensischen.

    www.juedische-allg...semitische-tweets/

    So ein versehentlicher Klick ginge als jugendliche Dummheit vielleicht noch durch, aber bei einer Hochschulpräsidentin fragt man sich dann schon, was mit ihrem Urteilsvermögen los ist.

  • 9G
    94799 (Profil gelöscht)

    Eben, eine Demokratie "der Biedermeier und Brandstifter" - beschämend und ein abschreckendes Beispiel um offene Menschen, "thinking out of the box". davon abzuhalten bei der Politikmitgestaltung selbst aktiv werden.



    Letztendlich fördern die "Berufsjuden", im Verbund mit BILD, CDU usw., damit nur den Antisemitismus - wann wehren sich die "normalen" Juden, die sich nicht in privilegierten Positionen, mit zB. Bodyguard, sehr gut dotierten steuerfinanzierten Jobs etc. befinden, endlich öffentlich dagegen?



    Die diffamierende Anti-Welle kann auch ganz schnell andere soziale Gruppierungen treffen die nicht im Zeitgeist mitschwimmen - dieses Antisystem wurde auch "erfolgreich" von 1933 bis 1945 eingesetzt.

  • Mal ganz davon abgesehen, dass Frau Rauch zu ihrer Entschuldigung erst durch die zuständige Senatorin gedrängt werden musste, und keineswegs zum leuchtenden Exempel einer vorbildlichen Fehlerkultur stilisiert werden sollte:

    Es ist völlig legitim, die israelische Politik zu kritisieren. Wer dies allerdings im Land der Shoh tut, steht in der Pflicht, seinerseits eine trennscharfe Grenzlinie zu Antisemitismus und Israelhass zu ziehen und sich unmissverständlich von Gruppierungen abzugrenzen, die ersichtlich auf die Vernichtung des Staates Israel zielen. Da gibt es auch keinen Dispens. Für mich jedenfalls sind das die nicht verhandelbaren Konsequenzen aus dem Mord an sechs Millionen Juden.

    Es gibt bestimmte Milieus, die das nicht wollen, nicht können oder nicht begreifen. Dann müssen aber auch mit der entsprechende Reaktion rechnen. So wie wir ja auch bei Holocaust-Leugnern - und da dürfte auch Stefan Reinecke mit mir einer Meinung sein - entsprechend reagieren. Andernfalls sollte man als Gerede von den Lehren aus dem Holocaust ehrlicherweise auch als das bezeichnen, was es dann wäre: eben als Gerede ohne jeglichen normativen Verpflichtungen.

  • 👍

    • @nutzer:

      anschließe mich - alles andere ist demokratisch rechtsstaatlich nicht zu Ende gedacht •

      unterm—- zum glatten Parkett —-



      Mal neutraler eingefaßt - einst zu den Mutlanger Sitzblockaden von ca 20 Kollegen fiel ausgerechnet dem frisch kriminalisierten Häuptling Silberkrücke Graf Lambsdorff FDP staatschäumend nichts besseres ein als “Sofort aus dem Dienst entfernen!“ Während ca 450 Richter & Staatsanwälte mittels Anzeigen im ZEIT & FAZ - Respekt bekundeten.

      So geht das ©️ Kurt Vonnegut



      “Wir müssen ständig von Klippen springen und unsere Flügel auf dem



      Weg nach unten entwickeln.“

  • "Es geht, zur Erinnerung, um einen falschen Like." - Hier fehlt nur noch das "nur" und der Versucht der Relativierung ist perfekt.

    Das war ein Like zu viel.



    Wer (ein mal) Nazicontent liked, den Holocaust relativiert oder Morde beklatscht oder anderweitig zeigt, dass der soziale Kontrakt nicht verstanden oder eingehalten werden kann, kann keine öffentlichen Ämter bekleiden. Eine Autoritäts- oder Lehrfunktion wird durch jede solche Äußerung ausgeschlossen. Der gleiche Standard der für Erzieher*innen, Polizist*innen und Lehrer*innen gilt, muss auch hier Anwendung finden. Ohne Ausnahmen. Ganz besonders nicht für Menschen in Macht- und Führungspositionen.

    Wem das nicht passt kann ja mit Aiwanger und Musk "Cancel Culture!" jammern.



    Ich freue mich das wir persönliche Verantwortung noch nicht aufgegeben haben wie in Amerika.

  • Es sei daran erinnert, dass es Antisemitismus sowohl von rechts als auch von links gibt.

  • Sehr geehrter Herr Merz. Schauen Sie nicht nur auf die Großen, sondern auch mal nach Thüringen, welche interessante Funktion ein gewisser Herr Frank Böwe innehat. Für CDU im Stadtrat, für AFD im Kreistag, und NIEMAND in der CDU interessiert sich dafür!



    Ein Mal CDU und das andere Mal gesichert rechtsradikal (AfD in Thüringen)!

  • Bigotterie entlarvt sie,



    Insbesondere ja die,



    Die mit zweierlei Maß gern messen



    Und die eigenen Fehler vergessen.



    Hauptsache, es ist nicht Misogynie



    Einer der Gründe für Hysterie!



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    taz reloaded, Updates erwünscht.



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