Gentrifizierung in Berlin: Heilige Profite, lästige Mieter
In der Jagowstraße 35 versucht ein Immobilienentwickler mit allen Mitteln einen Altbau aufzuwerten. Sehr zum Leidwesen der Bewohner:innen.
![](https://taz.de/picture/6971910/14/35205899-1.jpeg)
Jotzo soll nun feststellen, in welchem Zustand die Wohnungen sind. Abhängig vom Befund fällt die Mieterhöhung dann aus. „Je schlechter der Zustand, umso höhere Abzüge müssen wir machen“, sagt Jotzo. Um dem Anwalt auf die Finger zu schauen und die Bewohner:innen zu unterstützen, begleiten Mitglieder:innen vom Mieterverein und die grüne Mietenpolitikerin Katrin Schmidberger die Besichtigung am Samstagvormittag.
„Die Miete wird exorbitant höher sein, wenn die Mieter:innen wieder zurückkehren“, sagt Schmidberger der taz. Ebenso drohe den Bewohner:innen dann eine Eigenbedarfskündigung. Bereits 2021 wurde das Haus in Eigentumswohnungen aufgeteilt und der Weiterverkauf genehmigt. Wenn die neuen Eigentümer:innen dann die Wohnung selbst nutzen wollen, können sie die Mietverträge mit wenig rechtlichem Aufwand kündigen. „Es ist dringend benötigter, günstiger Wohnraum, der hier verloren geht“, sagt Schmidberger. Viele Menschen, die hier leben, arbeiteten in systemrelevanten Berufen und seien auf den günstigen Wohnraum in der Lage angewiesen.
An der Jagowstraße 35 zeigt sich der gesamte Wahnsinn des Berliner Wohnungsmarkts: Spekulation, Entmietung, Vernichtung günstigen Wohnraums durch Luxusmodernisierungen und klimaschädlicher Abriss und Neubau. Rechtliche Handhabe dagegen gibt es kaum. Erstaunlich dabei ist, dass es sich bei den Eigentümer:innen nicht um börsennotierte Großkonzerne wie Vonovia und Deutsche Wohnen handelt, sondern um gutverdienende Privatpersonen aus der Unterhaltungsbranche.
Langsame Verdrängung
Das Haus, 1910 errichtet, ist ein typischer Berliner Altbau: Vorderhaus, Seitenflügel, Hinterhaus, dazwischen ein kleiner Innenhof, den eine über 100 Jahre alte Kastanie mit ihrem Blätterdach fast komplett einnimmt. Das Haus ist nicht im besten Zustand, aber auch keine Schrottimmobilie. Es gibt eine Zentralheizung und viele Mieter:innen haben über die Jahre viel Zeit und Geld investiert, um ihre Wohnungen auf Vordermann zu bringen.
„Die Mieten hier sind unschlagbar“, sagt Mieter Armin Dadgar. Weniger als 5 Euro zahle er pro Quadratmeter. Seit 21 Jahren wohnt er hier mit Frau und Kind. Neben den günstigen Mieten schätzt er auch die Lage in Moabit, in direkter Nähe zum Hauptbahnhof, da er täglich pendeln muss. 30 Monate sollen Dadgar und die anderen verbliebenen Mieter:innen in Ersatzwohnungen ziehen.
Der Besuch des Anwalts ist für sie nur ein weiterer Schritt im langwierigen Prozess ihrer Verdrängung. Dieser begann schon 2017, als der alte Eigentümer verstarb. Die Tochter erbte das Haus, wollte aber mit der Immobilie nichts zu tun haben und verkaufte es. Nach zwei Eigentümerwechseln landete es bei der Jagowstraße 35 GmbH. Schnell war klar, dass die neue Eigentümerin die Immobilie „entwickeln“ wolle, wie es im Immobiliendeutsch heißt.
Das nur zwei Etagen hohe Vorderhaus soll komplett abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Dabei ist das Vorderhaus nicht baufällig, anstatt eines Abrisses wäre eine Aufstockung problemlos möglich. Die Mieter:innen haben dazu selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben. „Es ist eine Entscheidung des Eigentümers“, kommentiert Jotzo die Frage nach der Notwendigkeit des Abrisses. Die Kastanie im Innenhof soll einer Tiefgarage weichen. Die Wohnungen im Hinterhaus und Seitenflügel sollen komplett entkernt und luxussaniert werden, mitsamt Balkonen. Bestandsmieter:innen sind bei solchen Aufwertungsplänen oft nur ein störendes Element.
Abrissgenehmigung bereits erteilt
Nach dem Verkauf vernachlässigten die neuen Eigentümer:innen das Haus vollends, berichtet Dadgar. Im Winter sei die Heizung wochenlang nicht repariert worden, leerstehende Wohnungen wurden nicht wieder vermietet, sondern entkernt. Neben dem täglichen, frühmorgens startenden Baulärm bedeuteten die Arbeiten monatelange Staubbelastung. Vor Dadgars Wohnungstür hängt noch immer ein Plastikvorhang, mit dem er versuchte, seine Wohnung vor eindringendem Staub zu schützen.
„Das ist ganz klar eine Strategie, um uns das Leben ungemütlich zu machen“, vermutet Armin Dadgar. Wenn sie sowieso ausziehen müssten, gäbe es keinen Grund, die Arbeiten durchzuführen, während noch Menschen im Haus lebten. „Die Situation macht krank“, sagt auch die 57-jährige Katarina S. Den Besichtigungstermin des Anwalts empfindet sie als „demütigend“. Viele Mieter:innen seien bereits ausgezogen, weil sie dem Druck nicht standhielten.
Es besteht kaum eine Hoffnung, dass sich das Blatt für die Mieter:innen noch zum Guten wendet. Das zuständige Bezirksamt Mitte erteilte im August letzten Jahres eine Abrissgenehmigung für das Vorderhaus, weil es keine rechtliche Handhabe sieht. Der letzten verbliebenen Mietpartei im Vorderhaus droht eine Verwertungskündigung, sollte sie nicht freiwillig ausziehen. Auch den anderen Mieter:innen droht Klage, sollten sie die Ersatzwohnungen nicht akzeptieren.
Was bleibt, sind lediglich Appelle: „Die Eigentümer sollten von den Abrissplänen Abstand nehmen“, sagt Katrin Schmidberger. Die beiden Geschäftsführer der Jagowstraße 35 Immobilienverwaltungs GmbH sind bekannte Namen in der Musikbranche und kein börsennotiertes Immobilienunternehmen, das auf Profitmaximierung ausgelegt ist. „Ich glaube nicht, dass es den beiden so schlecht geht, dass sie darauf angewiesen sind.“
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