piwik no script img

Genozid an JesidenNiemals Normalität

Die Bedrohung gegen die jesidische Gemeinschaft dauert an. Auch wenn die Aufarbeitung sechs Jahre nach Shingal endlich begonnen hat.

Ein Camp für Binnengeflüchtete oder „Internally Displaced Persons“ (IDP) im Irak Foto: Zuma/imago images

S echs Jahre ist es nun her, dass Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats in Shingal einfielen und einen Genozid an den Ezîd*innen verübten. Die Männer und alten Frauen erschossen sie, die Frauen und Kinder nahmen sie mit als Sklav*innen für die Kämpfer des IS. Die Jungen dienten ihnen als Kindersoldaten, die Frauen und Mädchen vergewaltigten sie. Der Genozid an den Ezîd*innen ist auch ein Femizid. Am 15. August jährt sich auch das Massaker in dem êzîdischen Dorf Koco zum sechsten Mal, das Dorf, aus dem die Nobelpreisträgerin Nadia Murad kommt.

Auch wenn der Genozid heute keine Schlagzeile mehr ist, hat er nicht an Aktualität verloren und ist auch nicht vorbei. Noch immer leben Ezîd*innen in den IDP-Camps im Irak in mehrmals geflickten UNHCR-Zelten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Noch immer fehlt es vielen Überlebenden an psychologischer Unterstützung. Noch immer können die Ezîd*innen nicht nach Shingal zurückkehren. Türkische Kampfflugzeuge bombardieren Shingal. Am Boden überfallen IS-Zellen noch immer Ezîd*innen und verschiedene Gruppen kontrollieren das Gebiet. Außerdem sind große Teile der Infrastruktur zerstört und Sprengfallen noch nicht geräumt. Noch immer werden 2.800 Frauen und Kinder vermisst. Noch immer laufen IS-Täter*innen frei herum.

Dieser Genozid ist wie alle anderen Genozide keine Naturgewalt. Auch wenn es vielleicht von mitteleuropäischen Wohnzimmern aus im Fernsehen nicht so ausgesehen haben mag – der Staub, die schwarzen Flaggen, die zotteligen Bärte der IS-Kämpfer, die lachend abgeschnittene Köpfe in die Kamera hielten –, ist der Genozid von Menschen gemacht und hätte wie alle anderen Genozide verhindert werden können – verhindert werden müssen. Allein von den 147 Unterzeichnern der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, die nach der Schoah 1948 verfasst wurde, um zukünftige Genozide zu verhindern.

Wenn es um Genozide geht, gilt weder verjährt noch zu weit weg. Jeder Staat, der sich als Rechtsstaat versteht, ist in der Pflicht, die Täter*innen vor Gericht zu bringen, egal welchen Pass sie haben oder wo sie sich befinden. Dass das kaum und nur sehr langsam geschieht, ist die zweite Tragödie.

Diese Kolumne hätte ich genauso vor einem Jahr schreiben können. Die Lage der Ezîd*innen hat sich nicht groß verändert. Zwar gibt es in Frankfurt am Main mittlerweile den weltweit ersten Prozess, bei dem der Tatbestand des Genozids mitverhandelt wird und im Shingal hat man begonnen, Massengräber zu öffnen, doch êzîdisches Leben ist sowohl im Irak (Luftangriffe, IS-Zellen), als auch in Syrien (besonders nach dem Einmarsch des türkischen Militärs mit seinen islamistischen Söldnern) und der Türkei (Übergriffe, Friedhofsschändungen) immer noch bedroht.

Wenn ich diese Kolumne 2021 wieder im selben Wortlaut schreiben muss, hat die Weltgemeinschaft wieder einmal versagt. Dieser bereits sechs Jahre andauernde Zustand ist für Ezîd*innen keine Normalität und darf auch vom Rest der Welt nicht als Normalität hingenommen werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ronya Othmann
Kolumnistin
Kolumnistin, Autorin, Lyrikerin und Journalistin. Schreibt zusammen mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress
Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Um gegen die nach wie vor bestehende Bedrohung durch IS-Zellen ernsthaft vorzugehen, bräuchte es eben mehr als Sonntagsreden. Tausende "Boots on the ground", d.h. Bodentruppen kann und will der Westen im Irak aber wohl kaum mehr einsetzen. Dafür haben die Amerikaner einfach zu viel Porzellan zerschlagen mit all den verkorksten Kriegen im Irak. So verkommen weite Teile des Landes ohne echte Kontrolle der Regierung. Einsätze zur Ausbildung von irakischen Einheiten sind doch nur Feigenblätter. Die Loyalität solcher Truppen kann sich jederzeit ändern, je nachdem welche Gelegenheiten zur persönlichen Bereicherung eines Warlords sich gerade bieten.

    Hoffen wir, dass das Beispiel solcher "failed states" wenigstens abschreckend genug sind, um naiven Träumern hier im Westen vor Augen zu führen, was die Abwesenheit von staatlicher Ordnung wirklich bedeutet, wenn sie vom Sofa aus die "Abschaffung der Polizei" fordern. Die Jesiden im Irak wären jedenfalls heilfroh, eine Polizei wie wir hier in Deutschland zu haben.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Winnetaz:

      Dann bildet man die Jeziden selbst aus und bewaffnet sie.

      • @83379 (Profil gelöscht):

        Genau. Waffen in Krisengebiete liefern. Hat schon immer gut funktioniert. Profitiert hat immer nur die Waffenindustrie und die Warlords, denen die Waffen am Ende in die Hände gefallen sind.

        • 9G
          90564 (Profil gelöscht)
          @Winnetaz:

          ja, weil es ja nicht um den inhalt, sondern um die form geht, ist es für manche einfach total egal, ob man jetzt DAESH bewaffnet oder die YPG, sind ja irgendwie beides bewaffnete gruppen, gesellschaftsanalyse ade 0o



          schlimm schlimm