Gender-Trouble bei der „Welt“: Hauptsache Hitler
Gendern? Geht gar nicht! Denn Adolf Hitler hat's erfunden! Oder, halt – doch nicht? Na dann. Arbeiten wir die Sache doch mal seriös auf, ok?

Respekt. Wenn die Welt etwas dringend nötig hat, dann die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren. Und das hat Welt-Journalist Matthias Heine getan. In einem am Mittwoch online publizierten Artikel, dessen Titel, für eine Richtigstellung etwas überheblich, „die ganze Wahrheit“ über die „Nazis und das Gendern“ verspricht, stellt er klar: „Hitler begann Reden mit Volksgenossinnen und Volksgenossen. Aber die Nationalsozialisten haben solche, gendernden' Doppelformen nicht erfunden“.
So what?!, denkst du dir, auf die Idee wäre wohl auch keiner je gekommen: Aber das genau war ja der Fall gewesen. Noch Ende April hatte Heine geschrieben: „Vor 100 Jahren hat zum ersten Mal ein Politiker in Deutschland gegendert“, und zwar sei das – na wer wohl: selbstverständlich Adolf Hitler gewesen.
Und diese ausdrückliche Anrede beider Geschlechter nutze „sogar ein Politiker wie Friedrich Merz“, drückte Heine noch ein bisschen aufs Skandal-Pedal, „nicht ahnend, wer diese Marotte vor spätestens 100 Jahren in die Sprache der Politik eingeführt hat“. Nämlich am 25. Juli 1925, und zwar im so oft unterschätzten Zwickau, das sich doch gerade als Kulturhauptstadt mit gemeint fühlen darf.
Diese Genderwahnvorstellung war supererfolgreich: Etliche Alteweißemänner übernahmen sie ungeprüft wie eine ultimative Siegesnachricht, bauten ihre Kolumnen im Zeitmagazin darauf auf und rieben es darin den ideologisch verrannten Genderbefürworter*innen mal so richtig rein, dass sie dieses „für das deutsche Selbstverständnis so zentrale[…] Jubiläum“ ja wohl „nur in aller Stille“ begehen würden. Ha!, Der hätte gesessen.
Grober Unfug
Wenn nicht, ach!, das ganze grober Unfug gewesen wäre. Schon weil Matthias Heines Genderbegriff zu weit geht: Das Deutsche hat, seit es entstanden ist, offenbar immer schon mehrere Geschlechter gekannt und die durch Endungen und Artikel kenntlich gemacht.
Die gleichberechtigte Nennung der weiblichen und männlichen Form steht, außer bei der Wiederaufnahme des schönen barocken Wortes „Gästin“ in den Sprachgebrauch, weniger im Fokus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die kreist darum, ob die Sprachspiele, mit denen versucht wird, dem Deutschen Geschlechtergerechtigkeit beizubringen, verboten gehören. Oder, ob sie zu ermutigen sind.
Zugleich ist durch minimale Recherche zu klären: Das beschworene sprachpolitische Ereignis ist keins. Zwar gibt es in Deutschland systembedingt nur recht wenige politische Reden. Auch ist deren Überlieferung leider lückenhaft, zumal, was die – soziolinguistisch interessanten – Anredefloskeln angeht.
Aber zumindest seit dem in Mainz im September 1900 hat die SPD zuverlässige, vollständige Wortlautprotokolle von ihren Parteitagen drucken lassen. Alle sind online auf der Site der Friedrich-Ebert-Stiftung verfügbar. Das ist kein entlegener Ort. Dort hätte sogar ein Zeitmagazin-Kolumnist suchen und finden können, dass schon damals die meisten Redner*innen durchgängig und selbstverständlich die Anrede „Genossen und Genossinnen“ gebraucht haben, also jene „Doppelform“, von der Matthias Heine schreibt. Bloß halt allumarmend, ein – allzuoft gebrochenes! – Versprechen der Solidarität.
Wichtiger Kontext
Hitlers feindliche Übernahme der Formel funktioniert für seine Zwecke, weil er sie zugleich ausgrenzend völkisch erweitert. Und inhaltlich aushöhlt: Dieses – na von mir aus – „Gendern“ hindert ihn nicht daran, den Frauen das 1919 gewonnene passive Wahlrecht gleich 1933 wieder zu entziehen.
Ja, der Kontext. Der ist wichtig, wichtiger als die Ursprungsfrage, die nur zu polemischen Zwecken aufgeworfen wird. Sie ist bei Sprache, die ganz wesentlich ihr eigener Wandel ist, fast nie ganz zu klären – und zugleich von zweifelhafter Aussagekraft. Was würde es denn bedeuten, wenn Hitler tatsächlich als erster Mensch gegendert hätte? Wäre damit irgendetwas über das gegenwärtige Gendern gesagt?
Feststellen lässt sich hingegen: Die Möglichkeit, die Geschlechter gleichermaßen zu adressieren, hat immer schon eine weltgestaltende, also politische oder besser: ideologische Dimension.
Wenn Luther in seiner Bibelübersetzung 1534 mit einem seit dem Mittelalter geläufigen Wortspiel das Verhältnis von Mennin und Mann klärt, ist das ebenso ideologisch wie der Versuch, jeden kreativen sprachlichen Umgang mit der Pluralität der Geschlechter als ideologisch zu verteufeln. Um ihn dann ordnungsrechtlich zu unterbinden, um die Sprache vor vermeintlicher Verunstaltung zu bewahren. Auch eine vom unheilvollen Nachleben der Diktaturen durchwirkte Sprache wie die deutsche sollte das nicht nötig haben. Denn „sie, die Sprache“, hat der Dichter Paul Celan 1958 in seiner Bremer Rede gesagt, „blieb unverloren, ja, trotz allem“.
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