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Gefühle und KrisenCry hard, my friends

Deutschland hat einen Faktenfetisch. Gefühle haben da keinen Platz. Dabei sind Emotionen wichtig: Tränen wirken abführend.

Chinesische Männer weinen hochprozentige, männliche Tränen Foto: Zuma/imago

E s ist ein Oktobertag im Jahr 2016 und ich weine. Ich weine im Liegen, im Bett, und deswegen kriechen die Tränen seitlich meine Wangen hinunter und irgendwann fallen sie mir in die Ohren. Ich neige zum Weinen. Manchmal weiß ich gar nicht genau, warum. Aber es gibt genug Gründe: Klimakrise, Herzenskrise, allgemeine Deutschlandkrise. Außerdem habe ich vergessen, ob ich noch Milch im Kühlschrank habe.

Früher war weinen oft meine Reaktion auf Kritik. Wenn jemand fand, ich hätte etwas falsch gemacht, musste ich weinen, schließlich wollte ich alles richtig machen. Und wenn ich weinte, dann hieß es, ich solle mich zusammenreißen. Wer weint, jammert, wer jammert, ist schwach, attestieren die Kritiker:innen. So fühle ich mich gar nicht, denke ich.

Es ist ein Septembertag im Jahr 2006 und meine Onkel liegen sich weinend in den Armen, vor ihnen Schnapsgläser. Sie lallen gemeinsam in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es ist die Sprache der jaulenden Brüder, der kugelbäuchigen Mittvierzigerherren mit schweißnassen Halbglatzen und tränennassen Gesichtern.

Die Sprache ist schön, sie ist melodisch und inbrünstig, und verstehen kann sie niemand, der weder Bruder noch betrunken ist. Chinesische Männer weinen hochprozentige Tränen, aber sie weinen männlich, sehr laut und theatralisch und unapologetisch. Weinende Männer sind stark, attestieren die Nüchternen. Weinende Frauen sind einfach normal, denke ich.

Gefühle sind wichtig

„Du bist zu empfindlich“, mahnt meine Mutter. „Du brauchst ein dickeres Fell“, empfiehlt ein Kollege. „Weinen hat eine abführende Wirkung, hilft beim Abnehmen“, verkündet ein Frauenverachtungsmagazin. „HEUL DOCH“, brüllt ein Uwe via Twitter. Wer brüllt, hat was zu sagen, attestieren die Schlagzeilen. Vielleicht muss ich lauter sein, denke ich.

Es ist ein Spätsommerabend im Jahr 2019 und in der U-Bahn schreit mir einer seine Meinung ins Gesicht. Seine Meinung ist, dass er ja nichts mehr meinen dürfe. Meine Meinung ist, dass er verdammt noch mal nicht so schreien soll, das würde ich gern zurückbrüllen, aber ich bin schlecht im Lautsein. Also weine ich auf dem Heimweg. Am nächsten Tag trage ich knallroten Lippenstift. Bisschen laut, attestiert mein Spiegelbild. Mal was wagen, denke ich.

Deutschland hat einen Faktenfetisch, Gefühle haben da keinen Platz. Gefühlte Wahrheiten sind keine echten Wahrheiten, „emotionalisierte Debatten“ nicht führbar. Offen fühlen wird zur Schwäche, wer schwach ist, darf nicht mitreden. Dabei sind Gefühle wichtig.

Menschen erfrieren auf dem Weg nach Europa. Andere fragen sich, wie lange sie es noch aushalten in diesem Land, das sie weder hören noch beschützen kann. Ich bin dankbar für alle, die deshalb schreien – auch weil ich es nicht kann. Dafür kann ich weinen. Weinen hat eine abführende Wirkung und hilft beim Abnehmen. Die Tränen führen den Mist ab. Dann sind wir wieder leichter und können weitermachen.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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7 Kommentare

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  • 0G
    05654 (Profil gelöscht)

    Ich will die Hochphilosophische Diskussionsrunde des `Rat der Weisen´ an dieser Stelle ja nicht unterbrechen , oder dieser gar widersprechen ...

    Kannte jedoch bisher nur : Tränen heilen Innere Wunden ...

    & EMOTINALE INTERLIGENZ ( Wissenschaftl. Definition : www.psychomeda.de/...e-intelligenz.html / Wissenschaftl. Bedeutung : www.geo.de/wissen/...-den-kopf-bestimmt )

    Geschickter Schachzug jedenfalls von der Autorin die Subtile Anregung einer Emotionalisierung in diversen Themen- & Lebensbereichen , welche in Anbetracht regulär emotionslos geführter Debatten - z.Bsp. über das Leben oder Sterben von Tausenden Menschen , sowie ob man seiner Gesetzlichen Hilfeleistungspflicht diesen gegenüber vielleicht nachkommen möchte , oder sich doch lieber nur um sich Selber kümmert - bei Aller nötigen Rationalität & Notwendigkeit von Impulskontrolle , im Globalen Kontext angebrachter wäre als alles andere und mehr denn je ...

    Apropos zum weinen :

    Das Beste Gefühl - So laut mit Anderen Menschen zu lachen , dass Du Grunzgeräusche machst , Dir Tränen über das Gesicht laufen und Du weder reden noch atmen kannst - Wenn man vor lauter Lachen weint entsteht übrigens ein Regenbogen im Kopf ...

    Schönes Wochenende ...

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    • 0G
      05654 (Profil gelöscht)
      @05654 (Profil gelöscht):

      P.p.s. ( Korrektur Nachtrag )

      Sollte korrekterweise natürlich

      EMOTIONALE INTELLIGENZ

      geschrieben werden ...

    • 0G
      05654 (Profil gelöscht)
      @05654 (Profil gelöscht):

      P.s. ( Ergänzend. Nachtrag ) ...

      farm6.staticflickr...3_c42f6b8311_b.jpg

  • Wir brauchen eine ganz andere Emotionskultur, eine in der es Orte gibt, an denen man zielgerichtet und von allen bezeugt seine Gefühle und Meinungen ausdrücken kann - Eine Pnyx, neben der Agora (siehe Richard Sennets Essay). Eine klare, offene Kultur des Austausches statt der repressiven Modelle, die in Schule, Arbeitsplatz und Gesellschaft eingeübt werden. Unsere Selbstverleugnungskultur züchtet sich die Faschisten selber heran, die Pegida- und AfD Vulkane, in denen über Jahrzehnte hineinegefressenes sich in toxischem Hass auf das Eigene im Fremden / das Fremde im Eigenen explosiv entlädt. Auch die Gewalttätigkeit vieler Männer geht auf ihren deformierten Gefühlhaushalt zurück, wie Bill Burr in seiner letzten Show sehr schön deutlich macht.

    • @hessebub:

      Emotionen sind zu respektieren, das gebieten uns unsere ethischen Regeln. Denn ein Mensch, der unter Emotionen leidet, bedarf der Hilfe anderer.



      Aber Emotionen dürfen niemals zum Leitfaden unseres Handelns werden! Jedwedes Verbrechen, das je ein Mensch begangen hat, wurde und wird von Emotionen verursacht, von geringsten Diebstahl bis hin zum Holocaust. Insofern ist es vollkommen richtig und als Lernen aus der Vergangenheit zu sehen, dass gerade in Deutschland Fakten und logisches Denken einen derart hohen Stellenwert besitzen. Nicht das Zulassen emotionaler Ausbrüche, sondern mangelnde Selbstbeherrschung des Einzelnen, wie der Gesellschaft, führt zu einer Spirale der Verrohung, denn Emotionen sind selbstverstärkend. Man kann sie nicht ablassen, wie Überdruck aus einem Kessel, um diesen vor dem Zerplatzen zu bewahren. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Wer Emotionen herauslässt, verstärkt sie bei sich selbst und meist auch noch bei anderen Menschen in seinem sozialen Umfeld.



      Gott sei Dank gilt diese Selbstverstärkung auch für Vernunft und Selbstbeherrschung.

      • @boidsen:

        Definitiv - Fakten und rationales Handeln sind wichtig. Trotzdem würde ich Emotionen nicht so pauschal verdammen - es gibt schließlich eine Reihe von positiven Emotionen, deren Zugrundeliegen unser Handeln stark verbessern kann (Bsp: Eltern, die Liebe zum Leitmotiv ihres Handels gegenüber ihren Kindern machen).

        Etwas entfernt vom eigentlichen Thema, aber ganz interessant, ist auch der folgende psychologische Ansatz, welcher Emotionen als notwendige Basis für rationales Handeln darstellt::

        boccignone.di.unim...BecharaDamasio.pdf

        • @Pantomime:

          Emotionen als neuro-biologischer Reiz die Grundlage daraus resultierender adäquater neurolog. und motorischer Reaktion de.wikipedia.org/w...zialen_Entwicklung ? Hört sich sinnvoll und im Einklang mit gängigen Naturgesetzen & Wissenschaftl. Erkenntnissen an ! Im Kehrschluss kann daraus übrigens zudem resultiert werden , dass Patholog. Defizite Emotionaler Intelligenz & des Sozialverhaltens ( Soziopathie nach ICD10 , etc.) quasi prägungsbedingt anerlernte ( d.h. durch Adaption an Umwelt & Mitmenschen ´an-trainierte und ab-trainierbare´ ) Erscheinungen bzw. Verhaltensformen sind , insofern keine Schwere Schädigung des Neuronale Gewebes ( Hirnschäden infolg. Unfall , Trauma , Behinderung , etc. ) vorliegt welche deratige Dysfunktionen verursachen . ( D.h.: Eine Generation kann durchaus z.Bsp. Psychische Kriegstraumata de.wikipedia.org/wiki/Kriegstrauma wie Spezifische Ängste ( Xenophobie de.wikipedia.org/w...l%C3%A4rungsmodell ) und Emotionale Deprivation ( Emotionale Abstumpfung , Latent. Agression ) de.wikipedia.org/w...ionale_Deprivation in der Sozialen Interaktion mit Anderen Menschen-Gruppen , durch Kontinuierliche Prägung an Andere Menschen oder Generationen weiter´vererben´, ebenso wie sich diese in einem Kontinuierlichen und Langfristigen Prozess wieder Kompensieren bzw. ab-trainieren , und Neue Reaktions- &Verhaltensmuste erlernen , lassen . )

          Es besteht also noch Hoffnung für Uns Menschen ...

          😉