Geflüchtete aus Belarus: „Plötzlich sind sie verschwunden“
Wie können in Belarus verbotene Organisationen dennoch Geflüchteten helfen? Alena Tschechowitsch und Wadim Mojeiko berichten über die Lage.
taz am wochenende: Frau Tschechowitsch, Ihre Organisation Human Constanta gründete sich 2016, um Geflüchteten in Belarus zu helfen. Nun sind Sie selbst im Exil, während Migranten an den Außengrenzen Ihres Landes feststecken. Können Sie trotzdem etwas für sie tun?
Alena Tschechowitsch: Im Moment versuchen wir, uns ein Bild von der Lage zu machen. Auch wenn unsere Organisation aufgelöst worden ist, gibt es in Belarus immer noch Freiwillige, die uns unterstützen. Sie versuchen, an Informationen zu kommen. Das ist für sie sehr riskant. Wir sind ja in Belarus illegal. Ich kann deshalb nicht zu viel verraten, weil es für sie gefährlich sein könnte. Außerdem haben wir immer noch unsere Internetseite. Geflüchtete versuchen, uns zu kontaktieren. Oder es melden sich ihre Familien in der Heimat, die uns um Hilfe bitten.
Seit August 2021 haben Tausende Migranten versucht, die belarussisch-polnische Grenze zu überqueren. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, glauben Beobachter, fliege die Menschen ein und transportiere sie an die Grenze.
Polens Grenzpolizei bringt Aufgegriffene zurück über die Grenze, obwohl Pushbacks nach EU-Recht illegal sind. Zwar wurde in der Region mehrheitlich die rechtsnationale PiS gewählt, doch bieten viele Geflüchteten Hilfe an.
Die Polizei griff in der deutsch-polnischen Grenzregion am 24. Oktober rund 50 Menschen aus dem Umfeld der rechtsextremen Partei „Der dritte Weg“ auf. Pfeffersprays, ein Bajonett, eine Machete und Schlagstöcke wurden sichergestellt.
Die polnische Regierung plant eine befestigte Grenzanlage. Unterstützt wird sie von EVP-Fraktionschef Manfred Weber, Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) kritisiert das. „Mauern und Stacheldraht haben noch nie jemanden abgehalten, seinen Weg in die Freiheit zu suchen“, sagte UOKG-Vorsitzender Dieter Dombrowski.
Wie können Sie den Migranten oder ihren Angehörigen helfen?
Tschechowitsch: Wir bieten online Beratungen an. Gerade bereiten wir einen Leitfaden vor, der Geflüchtete über das Asylprozedere in der EU informieren soll. Darin steht zum Beispiel, dass sie in Polen oder Litauen um Asyl bitten sollen, statt zu versuchen, sich nach Deutschland durchzuschlagen. Wir können auch Kontakte herstellen zum UN-Flüchtlingswerk oder zum Belarussischen Roten Kreuz. Letzteres ist allerdings schwierig für uns, weil es eine regierungsnahe Organisation ist. Verwandte teilen uns oft mit, dass ihre Angehörigen sich zuletzt aus Minsk oder Grodno gemeldet haben. Und plötzlich sind sie verschwunden.
Herr Mojeiko, die belarussische Zivilgesellschaft ist seit den Präsidentschaftswahlen 2020 im Konflikt mit dem Machthaber Alexander Lukaschenko. Wie sind die Reaktionen auf die „Migrantenkrise“?
Wadim Mojeiko: Lukaschenko hat der Zivilgesellschaft den Krieg erklärt und die meisten unabhängigen Organisationen zerschlagen. NGOs fallen deshalb als Helfer in der Krise aus. Wer sich in einem Land wie Belarus für Menschenrechte einsetzt, tut das aus dem Herzen heraus und in dem Wissen um die Gefahren. Deshalb gibt es auch jetzt Einzelne, die sich für Geflüchtete einsetzen.
Welche Informationen haben Sie über die Lage der Migranten in Belarus?
Tschechowitsch: Derzeit wissen wir wenig. Einige Freiwillige und Journalisten berichten uns von obdachlosen Migranten auf den Straßen von Grodno und Minsk. Wir vertrauen diesen Quellen, aber bestätigen können wir das nicht. Andere mieten sich unseren Beobachtern zufolge von ihrem eigenen Geld Zimmer in Hostels oder Herbergen. Wir gehen davon aus, dass sie sich selbst mit allem Nötigen versorgen, bis sie zur Grenze gebracht werden.
Der Mensch
Die dreißigjährige Juristin wurde an der European Humanities University in Vilnius graduiert. Sie hat für Humana Constanta gearbeitet. Die Organisation wurde im Jahr 2016 gegründet, weil an der Grenze zu Polen Geflüchtete aus Tschetschenien gestrandet waren.
Das macht ihr Angst
Dass aufgrund der Unterdrückung der NGOs in Belarus niemand mehr da ist, der Geflüchteten organisiert Hilfe leisten kann.
Das macht ihr Hoffnung
Dass die EU sich gegenüber den Migranten menschlich verhält und Druck auf Belarus ausübt, die Rechte von Migranten zu achten.
Mojeiko: Die Regierung gibt keine offiziellen Zahlen bekannt. Es gibt nur Schätzungen, von Tausenden, die entweder in den Wäldern unterwegs sind oder, sofern es ihr Budget erlaubt, sich eine Unterkunft mieten.
Polen und die baltischen Staaten errichten Barrieren an ihren Grenzen, um sie undurchdringbar zu machen. Was würde es für die Migranten in Belarus bedeuten, wenn der Weg nach Westen versperrt ist?
Tschechowitsch: Das wäre das Ende ihrer Flucht. Die belarussischen Behörden würden sie aufspüren und einsperren, bis sie abgeschoben werden können.
Der Mensch
Wadim Mojeiko hat Kulturwissenschaften studiert. Der 32-Jährige legte 2020 sein Amt als außerordentlicher Professor an der Staatlichen Belarussischen Universität aus Protest gegen das repressive Vorgehen der Behörden nieder. Er ist Teil der 2006 in Litauen gegründeten Denkfabrik Biss.
Das macht ihm Angst
Dass Migranten zu Geiseln des Diktators Lukaschenko werden und jetzt irgendwo in den Wäldern an der Grenze zu Polen in der Kälte ausharren müssen.
Das macht ihm Hoffnung
Die heldenhaften Bemühungen der belarussischen Menschenrechtsaktivisten, die trotz ihrer eigenen schwierigen Lage versuchen, den Geflüchteten zu helfen.
Einige Beobachter sprechen davon, dass Lukaschenkos Versuch, die EU mit Migranten unter Druck zu setzen, für ihn selbst gefährlich werden könnte, weil die Bevölkerung unruhig wird. Sehen sie Anzeichen für Spannungen?
Tschechowitsch: Wir haben uns 2016 gegründet, als eine Gruppe Tschetschenen an der polnischen Grenze zurückgewiesen wurde. Die Dimensionen sind heute viel größer. Aber die Zahl der Migranten ist auf der anderen Seite nicht so riesig, dass die Geflüchteten den meisten Belarussen auffallen würden. Ich denke, dass Lukaschenko die Situation schnell in seinem Sinne und mit seinen Methoden lösen wird, wenn die Belastung für sein Regime überhandnimmt.
Mojeiko: Sicher wird das Regime hart durchgreifen. Es spielt über die Köpfe der Belarussen und der Geflüchteten ein politisches Spiel mit der EU. Die spannende Frage ist, was passiert, wenn die Migranten ihre letzten Mittel aufgebraucht haben, die Grenzen geschlossen sind und sie ziellos und verzweifelt durch das Land ziehen. Dann kann es Probleme mit der lokalen Bevölkerung geben. Den Belarussen wird durch die Geflüchtetenkrise erneut vor Augen geführt, dass diese Regierung ihnen nur Schwierigkeiten bereitet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid