Geflüchtete an lettischer Grenze: Folter und Abschiebung
Amnesty International erhebt Vorwürfe gegen die Regierung in Riga wegen des Umgangs mit Geflüchteten. Die EU-Kommission habe das Vorgehen unterstützt.
Das geht aus einem am Donnerstag veröffentlichen Bericht von Amnesty International hervor. Darin ist von schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Verbrechen nach internationalem Recht, die Rede. Diese seien seit Sommer 2021 von lettischen Grenzschützern gegen Flüchtlinge und Migranten an den Grenzen zu Belarus und in Haftanstalten verübt worden. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen sei „lang und schockierend – und unterscheidet sich deutlich von der Art und Weise, wie Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, in Lettland willkommen geheißen wurden,“ heißt es in dem Bericht.
Ein Iraker, der etwa drei Monate lang an der Grenze festsaß, sagte Amnesty demnach, dass er mehr als 150 Mal zurückgeschoben worden sei, manchmal bis zu acht Mal pro Tag. Zwischen diesen Pushbacks hätten die Betroffenen an der Grenze festgesessen. Menschen seien demnach in streng bewachten Zelten, die in abgelegenen Waldstücken aufgebaut waren, willkürlich festgehalten worden.
Die Behörden hätten Mobiltelefone der Menschen beschlagnahmt, um zu verhindern, dass sie mit der Außenwelt kommunizierten. Wer nicht in Zelten festgehalten wurde, musste in manchen Fällen bei Temperaturen von bis zu -20°C im Freien ausharren.
„Grausames Ultimatum“
„Lettland hat Schutzsuchenden ein grausames Ultimatum gestellt: Entweder sie stimmen einer ‚freiwilligen‘ Rückkehr in ihr Herkunftsland zu, oder sie sitzen an der Grenze fest, wo ihnen Inhaftierung, Folter und rechtswidrige Abschiebung drohen“, sagte Julia Duchrow, Stellvertreterin des Generalsekretärs von Amnesty International in Deutschland.
Zwischen Sommer 2021 und Ende Mai 2022 versuchten laut offiziellen lettischen Angaben 6.676 Menschen die Grenze aus Belarus zu überqueren. Ebenso wie Polen und Litauen hatte Lettland am 10. August 2021 den Notstand ausgerufen – dieser gilt bis heute. Dadurch konnten Menschen in vier lettischen Grenzregionen keine Asylanträge mehr stellen. Die lettischen Behörden sahen es als gerechtfertigt an, die Ankommenden direkt nach Belarus abzuschieben – laut Amnesty ein klar rechtswidriges Vorgehen.
Die baltischen Staaten und Polen wurden dabei von der EU-Kommission bestärkt. Diese hatte Polen, Litauen und Lettland Anfang Dezember 2021 eine vorübergehende Aussetzung von Asylbestimmungen zugestanden. Die zunächst auf ein halbes Jahr begrenzten Ausnahmeregelungen erlaubten die Frist für die Prüfung von Asylanträgen auf 16 Wochen auszudehnen.
Während dieser Zeit können die Asylsuchenden in Auffangzentren an der Grenze festgehalten werden. Außerdem schlug die EU-Kommission „vereinfachte und schnellere“ Rückführungen von Migranten vor, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Diese „Gegenmaßnahmen“ seien vom EU-Recht gedeckt, wenn „ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ sind, so die EU-Kommission damals.
Mehr Flexibilität
Sie sollten den drei Staaten in einer „beispiellosen“ Situation „Flexibilität“ ermöglichen, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Die Kommission versucht derzeit, diese Sonderregeln dauerhaft als mögliche Reaktion auf „Instrumentalisierung“ von Flüchtlingen festzuschreiben.
Polen hatte die von Brüssel vorgeschlagenen Maßnahmen damals als „kontraproduktiv“ abgelehnt. Die Asylverfahren müssten stattdessen gänzlich eingestellt werden, sagte der polnische Botschafter bei der EU, Andrzej Sados, damals. Er fürchtete eine „Überlastung“ bei der Prüfung von Asylverfahren. „Wir hatten vorgeschlagen, dass die Antwort auf einen hybriden Angriff die Möglichkeit sein sollte, Asylverfahren auszusetzen, und nicht, sie auszuweiten.“ Lettland scheint genau diesen Weg gegangen zu sein.
„Die Europäische Kommission schien die Maßnahmen der drei Länder voll und ganz zu dulden, was das Narrativ der „hybriden Bedrohung“ vorantrieb“, schreibt nun Amnesty angesichts der durch die aktuellen Befragungen zutage getretenen Menschenrechtsverletzungen.
Bereits im Mai hatte die NGO Ärzte ohne Grenzen einen Report veröffentlicht, nachdem das Nachbarland Litauen mehr als 2.500 Geflüchtete und Migrant*innen seit damals neun Monaten unter menschenunwürdigen Bedingungen in Haft hielt. Auch sie waren im vergangenen Winter und Herbst aus Belarus in das Land gekommen.
„Unsere Teams haben gesehen, welche körperlichen und psychischen Schäden die Menschen von der Inhaftierung davontragen“, sagte Georgina Brown, Landeskoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Litauen, bei der Vorstellung des Berichts. „Die Menschen erhalten kein faires Asylverfahren, und es gibt keine spezialisierte Unterstützung für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen oder Überlebende von Folter und sexueller Gewalt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste