Flüchtlinge an der Grenze zu Belarus: Kinder mit Hunden bedroht

Amnesty hat Belege für schwere Misshandlungen von Flüchtlingen an der Grenze zu Belarus gesammelt. Auch Wis­sen­schaft­le­r:in­nen warnen.

Ein Junge trägt eine Suppendose ineinem Flüchtlingslager.

Ende November an der Grenze zu Polen: ein Junge im belarussischen Flüchtlingscamp Bruzgi Foto: Sergei Bobylev/Itar-Tass/imago

BERLIN taz | Amnesty International hat Belege für schwere Misshandlungen von Flüchtlingen und Mi­gran­t:in­nen durch belarussische Sicherheitskräfte gesammelt. Polizei oder Armee in Belarus würden Menschen, die in der Europäischen Union Schutz suchten, „auf grausame Weise erpressen, foltern und anderweitig misshandeln“, so Amnesty in einem am Montag veröffentlichten Bericht. Die Menschenrechtsorganisation hatte insgesamt 75 Personen befragt, die zwischen Juli und November 2021 nach Belarus gekommen waren.

Aus diesen Zeugenaussagen gehe hervor, dass die Schutzsuchenden, darunter Kinder, von belarussischen Sicherheitskräften mit Stöcken und Gewehrkolben geschlagen und mit Hunden bedroht worden seien. Sowohl belarussische als auch polnische Sicherheitskräfte hätten sie gezwungen, die Grenze wiederholt und unter gefährlichen Bedingungen zu überqueren.

Die Befragten berichteten gegenüber Amnesty von schweren Formen der Misshandlung, wie dem Entzug von Nahrung und Wasser, der Verweigerung des Zugangs zu Unterkünften und sanitären Einrichtungen, dem Diebstahl von Telefonen und Geld sowie der Erpressung von Bestechungsgeldern durch belarussische Militärs.

Die Menschen seien in Gruppen zu „Sammelstellen“ innerhalb der umzäunten Zone eskortiert worden, bevor sie gewaltsam gezwungen wurden, nach Polen zu gehen, heißt es im Bericht. Dabei hätten Polizei und Militär sie teils gezwungen, durch eiskalte Flüsse zu laufen.

Gedroht, die Hunde loszulassen

Ein syrischer Mann habe berichtet, er sei in einer Gruppe von etwa 80 Personen in einem Militärlastwagen zur Grenze gefahren worden. Etwa zehn belarussische Soldaten mit vier Hunden hätten gedroht, die Tiere loszulassen. „Wenn wir nicht schnell rennen würden, würden wir gebissen werden.“ Die Soldaten seien hinter den Menschen her gerannt und hätten jeden, der nicht schnell genug war, mit Schlagstöcken geschlagen. Anschließen seien die Menschen in der Pufferzone mitten im Wald allein gelassen worden. „Diejenigen, die von den Hunden gebissen worden waren, bluteten.“ Bei der Aktion seien Familien getrennt worden.

Eine syrische Familie, die von Amnesty International interviewt wurde, blieb 20 Tage lang in der umzäunten Zone. Der Vater beschrieb die Tortur seiner Familie: „Wir waren manchmal fast ohnmächtig, hatten Hunger und Durst und konnten keine Hilfe finden, weder von polnischen Soldaten noch von den Weißrussen.“

Ein kurdischer Iraker berichtete: „Einige hatten eiserne Fingerboxringe und Stiefel mit Stahlspitzen. Sie traten uns, während wir auf dem Boden lagen. Sie zwangen uns zur Herausgabe von Geld und Telefonen. Mein Körper war schwarz und blau.“ Nach jüngsten, inoffiziellen Zahlen starben seit August 17 Menschen in der Grenzregion.

„Die gegnerischen Kräfte spielen ein schmutziges Spiel mit geflüchteten Männern, Frauen und Kindern“, sagte Markus N. Beeko, der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Die Menschen an der Grenze litten an Hunger und Kälte, sie bräuchten Hilfe. „Stattdessen gehen belarussische Sicherheitskräfte weiter mit schockierender Brutalität gegen sie vor, während Polen seine Schutzpflicht und die Genfer Flüchtlingskonvention weiter verletzt.“

Warnung vor „rechtsfreiem“ Europa

Unterdessen haben über 120 Wis­sen­schaft­le­r:in­nen aus 15 europäischen Ländern in einer gemeinsamen Erklärung davor gewarnt, dass Europa sich angesichts der Lage an der Grenze zu Polen zu zu einem „rechtsfreien Raum entwickeln“ könne.

„In den Wäldern sterben Männer, Frauen und Kinder an Unterkühlung, Durst und fehlender medizinischer Versorgung. Die polnischen Grenzschutzbeamten ignorieren ihre Asylanträge und weisen sie systematisch an der belarussischen Grenze zurück“, heißt es in dem Text, der neben zahlreichen polnischen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen auch von den Po­li­to­lo­g:in­nen Gesine Schwan, Claus Offe, Steffen Mau und der Völkerrechtlerin Dana Schmalz unterzeichnet wurde. Menschen würden in einem „gefährlichen, militarisierten Gebiet“ festgehalten, zu dem weder Ärzte noch Journalisten oder NGOs Zugang hätten.

Berichte von NGOs zeichneten das Bild einer „humanitären Katastrophe“. Die EU-Kommission habe darauf reagiert, indem sie Polen und den baltischen Staaten eine „Notlage attestierte und Massenabschiebungen unterstützte“, schreiben die Forscher:innen. „Die Unterstützung der illegalen Maßnahmen autoritärer Regierungen gibt ihnen freie Hand, gesetzlose Zonen auf dem Kontinent zu errichten“, heißt es weiter.

Die EU, die auf Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Grundrechte gegründet worden sei, dürfe diese Grundsätze nicht einfach aufgeben. „Hier geht es nicht darum, einem bestimmten Land Moralunterricht zu erteilen.“ Jedes Land habe das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren. Doch angesichts illegaler und unmenschlicher Praktiken, die immer weiter institutionalisiert würden, sei es „dringend notwendig, die universellen und grundlegenden Regeln der Rechtsstaatlichkeit zu bekräftigen.“

„Winterappell“ von Linken-Politiker:innen

Auch Linken-Politiker:innen im EU-Parlament, dem Bundestag und verschiedenen Landtagen veröffentlichen einen „Winterappell“ zur Lage an der polnisch-belarussischen Grenze. Die Zurückweisung von Geflüchteten ohne individuelle Prüfung im Asylverfahren sei ein eindeutiger Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und EU-Rechte, heißt es darin. „Diese Rechte können nicht durch nationale Gesetzgebung ausgehebelt werden, wie es Polen derzeit versucht.“ Die Situation reihe sich ein in die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzsuchenden an anderen Teilen der EU-Außengrenze oder den gewaltvollen Zurückweisungen in Marokko, an der türkisch-griechischen oder der kroatisch-bosnischen Grenze.

Geflüchtete, die jetzt zu erfrieren oder zu verhundern drohen, müssten sofort Zugang zu humanitärer Versorgung und fairen Asylverfahren in der EU bekommen, heißt es weiter. „Deutschland muss solidarisch zusammen mit anderen EU-Staaten eine Vorreiterrolle einnehmen und Polen anbieten, Asylsuchende zu übernehmen.“ Dabei könne sich die Bundesregierung auf die Hilfsangebote vieler aufnahmebereiter Städte und Kommunen stützen.

Unterzeichnet haben den Appell unter anderem die Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow, der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig und die Juristin Clara-Anne Bünger.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.