Gefährdete Menschen in Afghanistan: Viel zu spät
Deutschland will monatlich 1.000 gefährdete Afghan*innen aufnehmen. Eine Reform des Ortskräfteverfahrens ist weiterhin nicht in Sicht.
Darüber sollen ab sofort monatlich 1.000 Menschen nach Deutschland kommen können, die wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte oder ihrer Tätigkeit für Justiz, Politik oder Medien in Gefahr sind oder die wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechts oder ihrer Religion verfolgt werden.
„Vor allem Frauen und Mädchen rauben die Taliban seit letztem Sommer jede Perspektive und Hoffnung, schränken ihre Rechte immer weiter ein, gehen brutal gegen jede und jeden vor, die sich dagegen wehren“, erklärte Baerbock am Montag. Besonders an sie richte sich das humanitäre Aufnahmeprogramm.
Den Ministerien zufolge hat Deutschland bislang 26.000 Ortskräfte und gefährdete Afghan*innen über humanitäre Visa aufgenommen. Aufnahmezusagen haben aber rund 38.100 Afghan*innen. Ein Bundesaufnahmeprogramm hatte die Ampelkoalition bereits im Koalitionsvertrag versprochen, doch lange passierte nichts. Auch Initiativen mehrerer Bundesländer für eigene Programme bremste Faeser zunächst aus.
Für viele ist das Programm keine Rettung
Dabei ist die Lage in Afghanistan für die betroffene Zielgruppe seit dem Abzug der internationalen Truppen und der Machtübernahme der Taliban fatal. Im Oktober hatte die Bundesregierung einräumen müssen, dass mehrere Dutzend Menschen mit Aufnahmezusage inzwischen nicht mehr am Leben sind.
Für die vielen Menschen, die vor der Verfolgung durch die Taliban bereits in Nachbarländer wie Pakistan oder den Iran geflüchtet sind, ist das neue Programm keine Rettung. Denn in Betracht kommt nur, wer sich gegenwärtig in Afghanistan aufhält. Zunächst soll über das Programm zudem nur evakuiert werden, wer den meldeberechtigten Stellen bereits bekannt ist. Mit 1.000 Personen monatlich orientiert sich die Anzahl der Aufgenommenen an der Praxis der vergangenen Monate. Man sehe „die große Belastung der Kommunen durch die hohe Anzahl Geflüchteter, die wir in diesem Jahr bereits aufgenommen haben“, erklärte Faeser.
„Unambitionierter und bürokratischer geht es kaum“, kritisierte die fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Clara Bünger. 1.000 Plätze im Monat seien eine „enttäuschend niedrige“ Zahl. „Für viele Menschen, die in Afghanistan um ihr Leben und ihre Sicherheit bangen, wird es so absehbar noch Monate oder gar Jahre dauern, bis sie eine Aufnahmezusage für Deutschland bekommen können.“
Kritik kommt auch von grüner Seite: „Auch wenn jede einzelne Person zählt, die aufgenommen wird, hätte ich mir einen größeren Umfang gewünscht, der nicht in der Gesamtzahl begrenzt ist“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke der taz. Das Programm hätte „deutlich früher kommen müssen“, auch brauche es eine Erweiterung auf jene gefährdeten Menschen, die bereits in die Nachbarländer geflohen seien. Nachbesserungen am Programm müssten Teil der geplanten Evaluierung sein, forderte Pahlke.
Grundsätzliche Kritik am Programm kam indes aus dem CSU-regierten Bayern. Dass die Bundesregierung zusätzlich zu den bereits erteilten 38.000 Zusagen noch mehr Menschen aus Afghanistan aufnehmen wolle, sei den Ländern und Kommunen „nicht zumutbar und ein völlig falsches Signal“, monierte Innenminister Joachim Herrmann.
Kein Wort verloren Faeser und Baerbock am Montag über die versprochene Reform des Ortskräfteverfahrens. Noch immer harren mehrere Tausend ehemaliger Ortskräfte trotz Aufnahmezusage in Afghanistan oder den Nachbarländern aus. Hinzu kommen all jene, die durchs Raster fallen – zum Beispiel, weil sie nicht direkt von der Bundeswehr angestellt waren. In einem FAQ zum Bundesaufnahmeprogramm auf der Webseite des Bundesinnenministeriums heißt es schlicht: Das Ortskräfteverfahren sei „nicht beendet“ und werde „nach den bisherigen Kriterien fortgeführt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?