Gedenken an Kriegsende in Torgau: Kretschmers Botschaft an Russlands Botschafter
Vor 80 Jahren trafen sich in Sachsen sowjetische und amerikanische Befreier. Zum Gedenken kam auch Russlands Botschafter. Nicht er wurde ausgebuht.
Jährlich gedenkt Torgau feierlich diesem Tag. Daran knüpft auch Kretschmer an: „Keine Veranstaltung hier, kein Händereichen eines amerikanischen und eines Zeitzeugen der Roten Armee hat stattgefunden, ohne dass die sich geschworen haben: Nie wieder Krieg.“ Krieg sei das Schlimmste, was es gibt, beschwört Kretschmer und wendet sich dann an den russischen Botschafter Sergej Netschajew, der inmitten der Menge vor dem Monument steht und lauscht.
Manche der Zuhörer:innen tragen wie der Botschafter das Sankt-Georgs-Band, das seit Beginn des russischen Angriffskriegs als Propagandazeichen gilt. Einige sind T-Shirts mit Hammer und Sichel erschienen, dem alten Wappen der Sowjetunion. Auch Kinder von Wehrmachtssoldaten nehmen jedes Jahr am Gedenken teil. Unmittelbar vor Beginn des offiziellen Gedenkens kamen zudem Rocker des russisch-nationalistischen Motorradclubs „Nachtwölfe“ zum Denkmal. Sie legten Kränze und rote Nelken nieder. Vor den Motorrädern ritt eine Frau mit einer Russland-Fahne auf einem Pferd.
Zum ersten Mal dabei sind die vier Söhne des amerikanischen Infanteristen Robert Ellis, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpfte. Um seinen Spuren nachzugehen, seien sie aus den USA nach Europa geflogen, erzählen sie der taz. Auf die Anwesenheit des russischen Botschafters angesprochen sagen sie, der politische Kontext sei kompliziert. Aber sie hofften auf einen schnellen Frieden in der Ukraine, damit das Sterben aufhöre. Über Torgau verdunkeln graue Wolken den Himmel.
„Es liegt an Russland, den Krieg zu beenden“
Kretschmer sagt, er habe eine Botschaft an Netschajew: „Es war Russland, das einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukrainer begonnen hat.“ Netschajew blickt unverändert auf Kretschmer. Der Ministerpräsident setzt fort: „Nicht 2021, sondern schon 2014. Und es liegt an Russland, nur an Russland, diesen Krieg zu beenden.“ Während der letzten Worte applaudieren einige der Anwesenden, andere buhen Kretschmer für diese Bemerkung aus. Der Botschafter lässt sich nichts anmerken.
Dass Netschajew am Gedenken in Torgau teilnehmen wollte, hatte schon vor ab bundesweit für Furore gesorgt. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine hatte das Auswärtige Amt im Bund davor gewarnt, russische und belarussische Vertreter:innen könnten das Gedenken für ihre Propaganda vereinnahmen. Rederecht bekam Netschajew in Torgau nicht.
Torgaus Oberbürgermeister, Henrik Simon (parteilos), hatte betont, dass der russische Botschafter nicht explizit eingeladen worden sei. Die Stadt habe außerdem bereits im Februar die Botschaften Großbritanniens, Frankreichs, der Ukraine, Polens, der USA und Kasachstans informiert. Neben der russischen hatte sich nur die französische Botschaft angekündigt.
Kurz vor dem Gedenken forderte der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev, die Teilnahme Russlands zu unterbinden. In der Nacht zuvor hatte Russland erneut die ukrainische Hauptstadt Kyjiv mit Raketen und Drohnen beschossen und mindestens ein Dutzend Menschen getötet. Wenn Netschajew am Gedenken teilnähme, „verspotte“ das den Friedensschwur, sagte Makeiev.
„Wir haben keinen ausgeladen“, erklärt Torgaus Oberbürgermeister Simon am Freitag der taz, „weil ich glaube, das hilft nicht dabei, die Gräben zu schließen.“ Bei den Bildern, die täglich aus der Ukraine zu sehen seien, sei das entscheidende, „dass nur Russland diesen Krieg beenden kann.“ Vielleicht nehme der Botschafter das mit, sagt Simon hoffnungsvoll, „das sollte zumindest versucht werden.“
USA, Ukraine, Belarus, Georgien halten sich fern
Das Gedenken in Torgau ist besonders, weil es nicht an Tote oder Helden erinnert, sondern an das friedliche Aufeinandertreffen zweier Armeen. Als am 25. April 1945, einem Sonntag, Soldaten der Roten Armee auf jene der Vereinigten Staaten trafen, dauerte der Zweite Weltkrieg bereits mehr als fünf Jahre an. Der Handschlag in Torgau, er kündete vom Ende der deutschen Nazi-Diktatur. US-Soldaten und Rotarmisten, West und Ost, gemeinsam gegen Faschismus und Krieg, das war die Botschaft. Gut zwei Wochen später kapitulierte die Wehrmacht.
In dem von Deutschland begonnenen Krieg wurden schätzungsweise 60 Millionen Menschen getötet. Fast die Hälfte kam aus den 15 Nationen der Sowjetunion: 27 Millionen Tote. Fünf Monate nach der Begegnung in Torgau ließ die Sowjetunion das Denkmal an der Elbe errichten.
Der Sieg über Nazi-Deutschland galt in der Sowjetunion als eine der größten Errungenschaften. Bis heute begeht Russland den „Tag des Sieges“ am 9. Mai mit einer großen Parade in Moskau. Präsident Wladimir Putin feiert dabei aber mittlerweile eher die Soldaten, die für ihn gegen die Ukraine kämpfen, als die Veteranen des Zweiten Weltkriegs.
In Torgau drückt Michael Kretschmer in seiner Rede Bedauern darüber aus, dass keine Vertreter:innen der USA, der Ukraine, Georgiens oder Belarus beim Gedenken dabei sind. Der Grund sei wohl „die Anwesenheit des russischen Kollegen“, vermutet der Ministerpräsident. Doch trotz allem sei es wichtig, das Gedenken in Torgau zu begehen, schließt er seine Rede. „Das ist ein wichtiger Beitrag für die Demokratie, für die Freiheit, für den Frieden.“ Danach steigt Kretschmer vom Monument herunter, reicht Netschajew kurz die Hand und stellt sich ein paar Meter abseits von ihm in die Menge.
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