Gedanken zu (neuer) deutscher Musik: Ja. Nichts ist okay
Deutsche Sprache, schwere Sprache? Kommt drauf an, wer singt und spricht. Neue Alben von Gewalt, Mutter, Maxim Biller und ein Buch über Rammstein.
Böse Zungen behaupten, das Beste am Feiertag zur Deutschen Einheit sei der Brückentag, falls der 3. Oktober auf einen Donnerstag fällt, so wie dieses Jahr. Da trifft es sich gut, innere Einkehr zu halten und deutschsprachiges Popmusikschaffen in Ohrenschein zu nehmen, so man denn tiefere Lust verspürt, der eigenen Sprache und ihrem Auftreten in populärer Musik auf den Zahn zu fühlen.
Ob es ein Zufall ist, dass heute gleich mehrere Alben veröffentlicht werden, in denen neben der Norm Deutsch gesungen wird? Oder hat es doch nur mit der alljährlichen Veröffentlichungsoffensive der Musikindustrie zu tun, die zum Start in den Herbst noch mal aufs Promopedal drückt, um das Tonträgergeschäft vor Weihnachten anzukurbeln?
„Ich kann mich nicht finden im Wimmelbild“, heißt es desorientiert im Auftaktsong „Schwarz Schwarz“ auf dem neuen Album „Doppeldenk“ der Berliner Industrialnoiseband Gewalt. „Gib mir ein Tutorial für einen neuen Verstand“, fordert der Vortragende mit Schaum vorm Mund, weil er sich nicht zurechtfindet in der Nonstop-Selbstoptimierungswelt. Der Gesang wirkt gehetzt, mitunter sogar gequält.
Dazu erklingt eine Musik, die das heillose Textdurcheinander aus Verzweiflung, Niedertracht und despotischem Wahn um ein Vielfaches verstärkt. Muss auch so, und ist äußerst minimalistisch inszeniert, aber nie zu brav an Vorbildern wie Big Black und D.A.F. angelehnt. Es klingt auch nie linientreu nach Industrial meets hard und heavy, obwohl Sequenzer peitschen und betonharte Drumbeats das Crossover-Prokrustesbett mit Granit pflastern, während die Gitarrenriffs säbeln wie Fleischermesser im Schlachthof. Musik und Texte folgen der alten Neubauten-Maxime „Höre mit Schmerzen“.
Gewalt-Sänger Patrick Wagner
Zum taz-Gespräch kommen die beiden KünstlerInnen Helen Henfling und Patrick Wagner frisch zurückgekehrt aus Wien, wo Gewalt am Volkstheater in der Revue „Drei Tage für Österreich, können wir die Demokratie noch retten“ von Regisseur Kay Voges mitgewirkt hatten. „Österreich ist uns in Sachen Faschismus um fünf Jahre voraus“, fürchtet Sänger und Gitarrist Patrick Wagner.
„Wir haben dort mitbekommen, wie zurückhaltend die Kulturszene mit der Bedrohung durch die FPÖ umgeht, vielleicht aus Sorge um die Fördergelder.“ Und Gitarristin Helen Henfling ergänzt: „Wie sich dort der rechte Ungeist in Sprache und Gesellschaft eingenistet hat, wirkt unheimlich.“
Ihr neues Album „Doppeldenk“ ist nach einem Begriff aus George Orwells dystopischem Roman „1984“ benannt, es bezeichnet den Mechanismus, absichtlich Lügen in die Welt zu setzen, um aufrichtig an diese zu glauben. „Der böse Putin, der böse Trump. Klar, aber es geht auch um uns selbst, wie wir im Alltag diktatorische Mechanismen anwenden, etwa das Gegenteil von dem meinen, was wir sagen.“
Als Antipode zum Autokratischen wirkt, wie Gewalt in dem Song „Ich kann das nicht“ eine Form von Scheitern ohne jede Koketterie schildern. Deutsch klingt in der Stimme von Wagner oft zerbrechlich, traurig, nie sehnsuchtsvoll! „Ich rolle kein R und marschiere auch nicht herum“, erklärt er seinen Gesangsstil. Dass ihr Album am 4. Oktober erscheint, sei purer Zufall, sagt Henfling. „1989 war ich drei Jahre alt. Ich kenne Deutschland nur als Einheit.
Gewalt: „Doppeldenk“ (Clouds Hill/Ada Worldwide)
Mutter: „30 Jahre Hauptsache Musik“ (Minimalkombinat)
Maxim Biller: „Studio“ (GreedyforbestMusic/Indigo)
Mein Vater flüchtete aus der DDR in den Westen. Dass es im Osten einen krassen Rechtsruck gibt, erkläre ich mir damit, dass Kapitalismus plötzlich über die Menschen gekommen ist, ohne Vorwarnung. Alle waren überfordert, auch die, die nach Westen geflohen sind, vor der Maueröffnung. Da scheint viel Angst im Spiel zu sein.“ Patrick Wagner winkt ab. „Warum schauen wir nicht nach Osteuropa? Die Polen haben es schließlich auch geschafft, die Gefahr von rechts zu bannen.“
Das Finale ihres Albums ist in bestem Doppeldenk „Ne ne, alles gut“ betitelt. Wie einst Gabi Delgado deklamiert Patrick Wagner dabei Verbote und schlimme Redensarten durch: Von „Hinten anstellen!“, über „Ist dein Vater Glaser?“ bis „Ich bin kein Nazi, aber wir können ja nicht alle aufnehmen“, dann fangen ihn Harfenklänge auf und ein Chor shoutet: „Ja! Nichts ist okay“.
Album von Krachband Mutter erneut veröffentlicht
Ein Diktum, das wiederum auch für „Hauptsache Musik“ gilt. So heißt das schönste, 1994 zum ersten Mal erschienene Album der Krachband Mutter, das am 3. Oktober in einer Deluxeversion, ergänzt um abweichende Fassungen und unveröffentlichte Songs aus der Entstehungszeit, erneut veröffentlicht wird. Das neue Veröffentlichungsdatum, passt zur Antihaltung der Band.
Wobei Mutter, die Mitte der 1980er Jahre aus der Westberliner Punkszene hervorgegangen waren, schon um 1990 mit dem Song „Du bist nicht mein Bruder“ einen Kommentar zur verlogenen Glückseligkeit im wiedervereinten Deutschland abgegeben hatten: „Marmorjeans, die symbolisieren / Wir, wir sind wie ihr / Wir gehören zu euch / Du bist nicht mein Bruder / Du bist nicht meine Schwester.“ Während der Text von Sänger Max Müller mit Schopenhauer’schem Pessimismus korrespondierte, befreite sich der drastische Lärm vom Größenwahn des Mainstream-Rock, ähnlich, wie sich in New York No Wave aus den Fesseln von Punk löste.
Mit „Hauptsache Musik“ brachen Mutter dann mit diesen Zuschreibungen. Das bissig-böse Unversöhnliche ihrer früheren Alben war hinter folkig-chansonesken Instrumentierungen und liebevollen Textminiaturen verschwunden. Die Songs handeln von Freundschaft, Flirts oder einem Fetzen Papier. Die Texte klangen nach Italo Svevo: „Ihr seid alle schön“, „Wo ist das Problem“ heißen Songtitel.
„Warum nehmen wir uns nicht, was uns zusteht“, raunt Max Müller ahnungsvoll und bringt Existenzphilosophie zur Anwendung. Verzerrer wurden zugunsten von Glockenspiel und Schlagzeugbesen zurückgefahren. „Wer ist das Mädchen neben dir?“ Oft wird Müllers schräge Stimme von einem Chor flankiert. Wo er vorher vereinzelt klang, entdeckte die Band nun die Herzenswärme der Gemeinschaft für sich und labte sich an der Opulenz klassischer US-Countryalben.
„Hauptsache Musik“ klingt heute immer noch erwachsen, ohne altbacken zu sein. Fans brauchen die Deluxe-Version, allein um Outtakes wie das schummrige „Elton John“ zu hören, in dem der Popstar als Freak geschildert wird, der seinen Blues nicht mehr in Balladen ertränkt, sondern Feinden Fußnägel mit der Zange ausreißt. Auch toll: abweichende Fassungen von Albumtracks, etwa „Die Erde wird der schönste Platz im All“, gesungen mit charmantem englischem Akzent von der US-Lebensgefährtin des Mutter-Gitarristen Frank Behnke.
Lebensanschaulich mögen Welten zwischen Mutter und dem Berliner Schriftsteller Maxim Biller liegen, aber die delikaten Songarrangements, die er für sein Album „Studio“ mit dem Musiker Malakoff Kowalski kreiert hat, sind mit den Folkanmutungen von „Hauptsache Musik“ entfernt verwandt. Detailreich, dabei eher behutsam, sind die Klangteppiche der zwölf Songs mit Akustikgitarre, Klavier, gedämpftem Bass und minimaler Percussion gewebt. Biller, dessen sonore Stimme an Volker Lechtenbrink erinnert, betreibt in den Texten eine Vivisektion seines Ich, das narzisstisch wirkt und in einer durchmedialisierten Welt lebt.
Das ist insofern gut, weil „Studio“ wie eine Nachrichtensendung angelegt ist, von Weltpolitik bis Human Interest klingen relevante Gegenwartsthemen an. Jenseits der eigenen Prominenz gibt es wenig Interesse für die Umwelt. Was schade ist, weil Billers Textpoesie lakonisch klingt und sein riesiges Ego von der unaufdringlichen Musik eingehegt wird.
Man kann diese Songs trotzdem aushalten, zumindest wenn sie nicht von jüngeren Frauen handeln, sondern von eigenen Selbstzweifeln, den ebenso prominenten Nachbarn und Terror („Die Kriegsreporterin“, „Revolution von oben“, „6 Uhr 30“) und von Zärtlichkeit, die für eine in Vergessenheit geratene Schriftstellerin empfunden wird: „Für Maeve Brennan“. Souverän ist zudem, wie selbstverständlich jüdische Identität zur Sprache gebracht wird, obwohl sie im deutschen Alltag 2024 prekär ist.
Peter Wicke: „Rammstein. Provokation als Gesamtkunstwerk“, Hannibal-Verlag, Höfen 2024, 239 Seiten, 25 Euro
Eine Schweinshaxe für Rammstein
Wenn Kunstwerke Ausschnitte der Welt in kondensierter Form zeigen, was symbolisiert eigentlich der Sound von Rammstein? Eine Schweinshaxe? Glaubt man dem emeritierten Musikwissenschaftler Peter Wicke, findet bei der Berliner Band „Provokation als Gesamtkunstwerk“ statt. Weil er die ostdeutschen Künstler unbedingt vom Nazivorwurf und vom Backstage-Missbrauchsskandal entlasten möchte, geht er in Buchform zum Gegenangriff über und nimmt „die Sachwalter der political correctness und die doktrinären Aktivisten der woken Tugendhaftigkeit“ in Haftung.
Dafür baut Wicke ein rosarotes Fantasiegebilde um Burg Rammstein auf. Jede Feuersäule auf der Bühne, jeder Sattelschlepper, der Equipment um die Welt karrt, wird in technizistischer Beipackzettelsprache aufgezählt. Kein gutes Haar lässt Wicke dagegen am Feuilleton, weil es toujours auf Skandälchen der Band reinfällt, von Peniskanone bis Eisernes Kreuz im Bandlogo.
Und da schau her: Anders als die opportunistischen Westkünstler hätten Rammstein Übung mit der Kunst von Uneindeutigkeit aus ihrer Jugendzeit in der DDR-Opposition. Am Ende verharrt der verrückte Professor ähnlich öde in Kapitalismuskritik wie das Bündnis Sahra Wagenknecht. Na, wenigstens ist heute Brückentag.
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