Gastkommentar Verkehrspolitik: Schluss mit Auto first
Der Autoverkehr soll fließen – das war die Verkehrspolitik vergangener Jahrzehnte. Schluss damit! Die Verletzlichsten müssen im Fokus stehen.
M üssen ältere Menschen trainieren, um schneller über die Straße zu kommen? Natürlich nicht, verteidigte sich Verkehrsminister Andreas Scheuer jüngst in einem Video mit dem Hashtag #MissverständnisDerWoche.
Was war passiert? Im Unfallverhütungsbericht aus seinem Ministerium findet sich folgende Empfehlung: „Für ältere Fußgänger/innen werden Maßnahmen angeraten, die vor allem die physischen Voraussetzungen für sicheres Queren trainieren.“
Im Kontext der Verkehrspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist dieser Vorschlag einfach nur: konsequent. Ziel dieser Politik: Der Autoverkehr soll möglichst schnell fließen. Tausende Verkehrstote, Umweltverschmutzung, Klimaschäden, Gesundheitsrisiken werden dafür in Kauf genommen. Autos first.
Fußgänger*innen bekommen den Platz, der übrig bleibt. Fußwege sind die kleinen Wegstücke von einer Kreuzung bis zur nächsten. Wer über die Straße muss, der gefährdet die eigene Gesundheit. In der Logik „Auto first“ ist der folgende Gedanke zur Verbesserung der Sicherheit ganz natürlich: Wer schneller quert, ist kürzer im Risiko.
Stefan Gelbhaar
ist Sprecher für städtische Mobilität und Radverkehr der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Obmann im Verkehrsausschuss..
Natürlich ist diese Empfehlung zynisch. Während die Unfallzahlen insgesamt sinken, ist die Zahl der Unfälle mit Gehenden und Radfahrenden in Städten weiter hoch. Wer zu schnellerem Queren rät, gibt den Opfern die Schuld.
Verkehrspolitik muss an den Stärksten ausgerichtet sein? Mitnichten, sie muss die Verletzlichsten im Fokus haben. Dafür müssen Straßenverkehrsgesetze neu geschrieben, Geld und Platz anders verteilt werden. Erst wenn Menschen, nicht mehr Maschinen, im Mittelpunkt der Verkehrspolitik stehen, können wir sicher vor die Haustür treten. Die Zeit dafür ist längst reif.
Größter Bremsklotz ist dabei das Verkehrsministerium. Wenn Scheuer sich weiterhin der Verkehrswende verweigert, ignoriert er nicht „nur“ Klima- und Umweltschutz. Er verweigert uns allen gesunde und sichere Mobilität. Die Empfehlung im Bericht lässt sich als Missverständnis darstellen. Die Grundhaltung dahinter aber bleibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier