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Geschichtsträchtige Ecke: Flanieren auf der Museumsinsel in Berlin-Mitte Foto: Nadja Wohlleben

Ganz Berlin ist am SpazierenFlanierend die Stadt aneignen

Historisch ist die Rolle des Flaneuers männlich besetzt. Es braucht eine neue Erzählung! Das Autorinnenkollektiv von „Flexen. Flâneusen*“ liefert sie.

berall sehen wir sie in diesen Tagen: Spaziergän­ger*innen, paarweise, in Gruppen oder allein, in den Parks, in den Straßen, auf öffentlichen Plätzen. Kurz: Flanieren ist en vogue. Dabei ist das Flanieren ja nichts Neues, solange es Städte gibt, gibt es auch den Flaneur, der seit jeher in der Literatur verewigt wurde.

Die alten Vorstellungen vom Dandy-Flaneur mit Gehstock und Frack sind jedoch längst überholt. Wenn wir uns umschauen, sind die Flanierenden von heute der Papi mit dem Kinderwagen, die junge Frau im Rollstuhl oder die Oma mit dem Rollator. Sie existierten bislang praktisch nicht in der Geschichte des Flanierens. Es bedarf einer neuen Erzählung von Städten, die der heutigen Wirklichkeit gerecht wird. Das Flanieren ist eine subversive Erfahrung, die Stadt neu kennenzulernen, ihre einzelnen Facetten neu zu durchdringen.

Beim Flanieren sind wir mit uns selbst. Wir suchen die Ruhe und den Abstand zu anderen. Wir können ganz bei uns sein, unsere Wahrnehmung verändert sich. Wir gehen nicht mehr nur von A nach B, sondern gehen um des Gehens willen. Wir sind allein mit unserem Körper auf der Straße und fühlen unsere Bewegung. Flanieren gibt Zeit, dass wir uns auf unsere Atmung konzentrieren, dass wir unser Gesicht spüren, die Kälte des Dezembers auf der Haut, an den Händen, den Beinen und Füßen. Wir sind eins mit unserem Körper, und wir sind eins mit unseren Gedanken, während unsere Füße den Asphalt berühren.

Doch wer kann sich ungehindert in der Stadt bewegen, und für wen tun sich Hindernisse auf, sichtbare oder unsichtbare Grenzen? Es ist nicht selbstverständlich draußen, mit einem Latte macchiato in der Hand, einfach herumwandeln zu können. Weil nicht jede*r die zeitlichen oder finanziellen Ressourcen hat. Weil sich nicht jede*r ungestört zu jeder Tages- und Nachtzeit bewegen kann. Weil sich der öffentliche Raum immer noch an einer Norm orientiert, in der Menschen mit Behinderung, Alte oder, na ja, auch einfach Schwangere keinen Platz finden.

Verbale, meist sexualisierte Gewalt

Es ist kein Geheimnis, dass Straßen für einige sicherer sind als für andere. Viele von uns kennen es: hinterherpfeifen, unerwünschte Kommentare, die einem im Vorbeigehen zugeraunt oder laut zugerufen werden, Gesten, die einen provozieren sollen. Catcalling nennt man diese Form der verbalen und meist sexualisierten Gewalt, die sich vor allem gegen Frauen, Homosexuelle, People of Color, trans Personen und Menschen mit Behinderung richtet.

Das Flanieren ist eben doch ein Privileg und bleibt es, solange die Bedürfnisse dieser Menschen im Stadtraum nicht mitbedacht werden. Das führt zu der Frage: Wie wurden und werden Städte gebaut? Und von wem?

Es fängt schon bei den Bordsteinen an: für Menschen in Rollstühlen, für alte Menschen mit Rollatoren, für Menschen mit Kinderwagen sind sie oft schlicht zu hoch. Absurd wird es bei öffentlichen Toiletten, wie es sich beispielsweise auch in jüngster Zeit in der Diskussion über die neuen öffentlichen Toiletten am Leopoldplatz gezeigt hat, die nicht nur durch fehlenden Sichtschutz für eine tolle Aussicht sorgten, sondern auch insgesamt wieder einmal zum Symbol für sexistische Stadtplanung wurden. Denn die Toiletten bestanden lediglich aus zwei Pissoirs. Denn wen interessiert’s schon, wenn Menschen ohne Penis aufs Klo müssen.

Selbst Windkorridore zwischen Gebäuden werden stadtplanerisch in Größe und Gewicht als Norm gedacht, wie Leslie Kern in „Feminist City: Wie Frauen die Stadt erleben“ (Unrast Verlag 2020) beschreibt. Wer nicht dieser „Norm“ entspricht, also einfach klein, dick oder dünn ist, wird eben umgepustet.

Stadt muss unterlaufen werden

Die Stadt dokumentiert Geschichte. An ihrer Architektur zeigt sich deutlich, wie sich verschiedene Zeiten miteinander vereinen, wie die Geschichte sich in der Stadt manifestiert. Aber auf den zweiten Blick sieht man noch viel mehr. Für manche sind die Wege voll mit Stolpersteinen, Hürden, die Erinnerungen öffnen, den Alltag begleiten, mit Gedenksteinen, die die Wege bedecken, auf denen man seinen Supermarkteinkauf erledigt. Selbst die Steine, aus denen die Fußgängerwege gemacht sind, sind Spuren der Geschichte, einer bestimmten Stadtplanung. Die Fassaden der Häuser zeigen, wer hier lebt, ob arm oder reich, aber auch wer hier einst gelebt hat. Ihre Bewohner*innen sehen die Stadt mit unterschiedlichen Augen.

Um diese Vielschichtigkeit abzubilden, bedarf es einer neuen Betrachtung von Städten. Oder wie Kulturwissenschaftlerin Lauren Elkin es nennt: „Queering the City“ – die Stadt muss unterlaufen werden. Aktionen solcher Art gibt es viele. Wie zum Beispiel die Umbenennung von Straßennamen mit Bezug zur Kolonialzeit, wie es im Berliner Wedding beispielsweise für die Petersallee und den Nachtigalplatz seit Jahren eingefordert wird. Oder auch der Umsturz von Statuen, wie der Colston-Statue im britischen Bristol, die zu Recht im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste buchstäblich gecancelt wurde.

Das Buch über „Flexen“

Das Buch “FLEXEN. Flâneusen* schreiben Städte“ (272 Seiten; 18 Euro) ist im Verbrecher Verlag erschienen. Darin finden sich 30 Texten mit 30 verschiedenen Perspektiven auf Städte, alle geschrieben und erlebt von Frauen*, PoC oder queeren Menschen. „Texte, die beweisen, dass das Flexen, die Flâneuserie endlich ernst genommen werden muss“, wie es im Pressematerial heißt. „Die Figuren in der Anthologie streifen durch Berlin, Paris, Jakarta, Istanbul und Mumbai. Sie erzählen uns u.a. davon, wie eine Frau mit Kinderwagen die Großstadt erlebt, eine Frau eine Großdemonstration in Dresden miterlebt, wie Flanieren in Indien schon Aktivismus bedeutet, wie sich die Geschichte in den Ort einschreibt und manchmal wird die Stadt sogar selbst zur Figur.“

Das Umstürzen von Statuen ist erst der Anfang. Auch wenn es in der jetzigen Zeit erschwert ist, sich kollektiv zu organisieren und auf die Straßen zu gehen, gibt es Möglichkeiten der subversiven Unterwanderung der Stadt: das Flexen. Flexen bedeutet die aktive Aneignung der Stadt, es bedeutet, sich den Stadtraum zu eigen zu machen, gegen die unsichtbaren Grenzen und vorgeschriebenen Traditionslinien anzulaufen.

Wer nicht allein flanieren und flexen will, kann allein im Kollektiv flexen – mit einem Audiowalk. In einer Zeit, in der die meisten Kulturangebote geschlossen sind, bietet er noch eine Möglichkeit der literarisch-künstlerischen Betrachtung der Stadt. Der Audiowalk fügt dem Flanieren als Kunstform eine weitere Facette hinzu. Man läuft allein, aber die Stimme im Ohr verbindet die einzelnen Flanierenden zu einem Erlebniskollektiv.

Die heutige Zeit macht noch einmal mehr deutlich, dass Städte kollektiv gedacht werden müssen, wenn sie für alle ein angenehmes Zuhause bieten sollen. Statt uns drinnen einzuigeln, sollten wir aktiv werden, den Stadtraum einnehmen, ihn umdeuten, für uns und andere neu denken. Das heißt, wir sollten flexen, uns in die Stadt flexen, uns die Stadt zurechtflexen. Denn der Baudelair’sche Flaneur liegt schon lange in der Schublade und hüllt sich ein unter dem Staub der Jahrhunderte, und dort kann er auch bis in alle Ewigkeit gern liegen bleiben und es sich in den Ecken der Schublade gemütlich machen. Also, Schuhe an und raus!

Text: kollektiv flexen – Lea Sauer, Mia Göhring, Özlem Özgül Dündar

Anna Opel, Co-Autorinnen des Audiowalks über Haushofer, beim Rundgang mit taz-Redakteur Uwe Rada Foto: Nadja Wohlleben

Er war Widerstandskämpfer und Dichter der „Moabiter Sonette“, aber auch Günstling von Rudolf Heß. Ein Audiowalk spürt dem widersprüchlichen Leben von Albrecht Haushofer nach

Viel Platz war da nicht. Zum Hofgang ging es für die Gefangenen in den sogenannten Spazierhof. Damit sie nicht mit den anderen Häftlingen im Moabiter Zellengefängnis sprechen konnten, war der Spazierhof abgezirkelt. In einem gleichschenkligen Dreieck konnten sie auf und ab gehen. „Im Dreieck springen, dieses Bild für den Ausnahmezustand, kommt daher“, erklärt die Stimme im Kopfhörer. Sie gehört einer der Sprecherinnen im Audiowalk, den Anna Opel und Ruth Johanna Benrath im Auftrag der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entwickelt haben. „Spurensuche Albrecht Haushofer“ heißt er und ist ab sofort als Podcast verfügbar.

Wäre Albrecht Haushofer auch im Dreieck gesprungen? Als der ehemalige Diplomat und Günstling von Rudolf Heß, der später den Kontakt zum Widerstand gegen die Nazis gesucht hatte, im Dezember 1944 ins Moabiter Gefängnis in der Lehrter Straße geworfen wurde, waren die Dreiecke bereits abgeschafft. Vielleicht hätte er auch nicht hin- und hertigern müssen, weil er in den dunkelsten Stunden seines Lebens beim Schreiben eine innere Ruhe gefunden hat.

Achtzig Sonette hat Haushofer in Moabit verfasst, nach dem Krieg wurden sie als „Moabiter Sonette“ herausgegeben. Eines davon ist im Audiowalk zu hören: „Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt / Ist unter Mauerwerk und Eisengittern / Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern / Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.“

„In Fesseln“ heißt das Sonett, es ist ein berührendes Zeugnis der Mitmenschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen – und endet mit den Zeilen: „Der Schlaf wird wachen wie das Wachen Traum / Indem ich lausche, spür ich durch die Wände / Das Beben vieler brüderlicher Hände.“

Aber was weiß man schon

Zellengefängnis Moabit. So ein Erinnerungsort halt. Man hat von ihm gehört, aber was weiß man schon, wenn man danach gefragt wird? Viel übrig geblieben ist auch nicht von der ehemaligen Königlichen Strafanstalt aus dem Jahre 1847, eingerichtet schon nach dem „panoptischen Prinzip“ – von wenigen Punkten aus ließ sich alles überwachen. Heute befindet sich in den Mauern gegenüber dem Hauptbahnhof ein „Geschichtspark“.

Aber erst Haushofer gibt der Geschichte ein Gesicht, wenn die Sprecherin der „Spurensuche“ anmerkt: „Draußen dichter Großstadt­dschungel und hier drinnen Garten und Landschaft. (…) Suchen Sie sich ein Plätzchen. Schauen Sie sich in Ruhe um. Ich bin da, zeige Ihnen den Weg, nehme Sie bei der Hand, wenn wir nach Albrecht Haushofers Spuren suchen. Sterben und Leben. Schreiben – hier am historischen Ort.“

Nach dem Aufenthalt auf dem Gelände des Zellengefängnisses folgt einer der beklemmendsten Momente des knapp anderthalb Stunden langen Spaziergangs. Wir verlassen den Knast am Ausgang Lehrter Straße und folgen Albrecht Haushofer auf seinem letzten Weg. Hat er es gewusst? Oder war er arglos?

Der Autor Uwe Rada beim Audiowalk auf den Spuren von Albrecht Haushofer Foto: Nadja Wohlleben

„Am 22. April abends gegen 22 Uhr lag ich mit mehreren Häftlingen, u. a. mit Professor Albrecht Haushofer in einer Kellerzelle auf unseren Strohsäcken“, berichtet später ein Mithäftling. „Haushofer hatte gerade von seinen mittlerweile allgemein bekannten Sonetten uns verschiedene vorgetragen. Auch hatte er einen Akt aus einem wundervollen Theaterstück uns vorgelesen, das er gerade in den letzten Tagen fertiggestellt hatte. Wir saßen bei einem Kerzenstummel zusammen, als der Kriminalkommissar Albrecht unsere Zelle betrat und Haushofer in sehr freundlichen und verbindlichen Worten aufforderte, nach draußen zu kommen.“

Die Spannung überträgt sich

Geahnt wird er es haben, aber er wird auch gehofft haben, dass es anders kommt. Diese Spannung überträgt sich auf die Geschichtsspazierenden, wenn es im Audiowalk heißt: „Haushofer und 15 Mithäftlinge werden in der Nacht von einem Gestapo-Kommando abgeholt. Wir stellen uns das vor, auf Messers Schneide: Werden sie morgen schon frei sein? Oder werden sie in letzter Minute erschossen oder Opfer der Straßenkämpfe? Der Trupp setzt sich in Bewegung und auch wir brechen auf, folgen ihm – mit dem Abstand von 75 Jahren.“

Über die Lehrter Straße geht es zum ULAP-Park, wo heute Obdachlose leben. Vor der Freitreppe werden in der Nacht auf den 23. April 1945 vierzehn Häftlinge, unter ihnen Albrecht Haushofer, erschossen. Einer überlebt und berichtet nach dem Krieg einem Bruder Haushofers von der Ermordung. Gemeinsam gehen sie an den Ort der Hinrichtung. Die Leichen sind noch da.

Es ist dieses gemeinsame Entdecken, sanft und doch schockierend und gleichzeitig nie effekthaschend, das schon Opels und Benraths Audiowalk zu Rosa Luxemburg zu einem besonderen Ereignis gemacht hat. „Spurensuche“ heißt bei den beiden Schriftstellerinnen auch, dem Menschen, dem sie gewidmet ist, ein Stück näher zu kommen, ihn zu verstehen. Wie kam es, dass sich Haushofer, ein Deutschnationaler eigentlich, dem die Weimarer Demokratie fremd war, dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen hat? Und warum hat er all die Jahre zuvor als Berater von Außenminister Joachim von Ribbentrop so lange mitgemacht?

Fragen sind das, die den zweiten Teil des Geschichtspfads begleiten. Vom Ort der Hinrichtung geht es unter der ICE-Trasse hindurch zwischen dem Garten des Kanzleramts und dem Neubau des Innenministeriums auf einem fast verwunschenen Pfad Richtung Spree. Hier, im Regierungsviertel, rollte sich das Leben des 1903 geborenen Albrecht Haushofer auf – und bleibt doch ein Geheimnis.

Rudolf Heß sei Dank

Als Sohn eines berühmten Geografen studiert er ebenfalls Geografie und Geschichte und tritt 1925 eine Assistenzstelle von Albrecht Penk an, der mit seiner Theorie des „Volks- und Kulturbodens“ dem völkischen Denken auch wissenschaftlich den Boden bereitet hat. Dass er nach 1933 Dozent an der gleichgeschalteten Hochschule für Politik werden kann, hat der Sohn eines jüdischen Großvaters Rudolf Heß zu verdanken, der mit seinem Vater befreundet war. Haushofer wird Berater von Joachim von Ribbentrop, dem späteren Außenminister. „Einwirken durch Mitwirken“ nennen Opel und Benrath den Versuch Haushofers, die Nazis von einer gemäßigten Außenpolitik zu überzeugen.

Audioguide und Buch

Der Audioguide über das Leben von Albrecht Haushofers steht zum Download oder als Stream auf der Seite der Gedenkstätte Deutscher Widerstand bereit: www.gdw-berlin.de.

Das Buch von Anna Opel – „Recherche Haushofer. Annäherung an den Autor der Moabiter Sonette“ – ist bei Edition Fototapeta (208 Seiten, 15 Euro) erschienen.

Hat sich der junge Karrierediplomat überschätzt? Als Heß, der Stellvertreter Hitlers, auf eigene Faust nach England fliegen will, um dort Friedensverhandlungen zu führen, warnt ihn Haushofer. Nach Heß’ Absturz und Verhaftung wird Haushofer von Hitler auf den Obersalzberg zitiert. Nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944 muss Haushofer fliehen. Im Dezember wird er auf einem Heuboden nahe dem elterlichen Hof in den Alpen durch einen Zufall entdeckt. Er hatte vergessen, die Leiter hochzuziehen.

Spätestens nach dem Englandflug von Heß war also Haushofers „Einwirken durch Mitwirken“ gescheitert. Doch die Widersprüchlichkeit seiner Persönlichkeit bleibt. Sie hat Anna Opel dazu gebracht, neben dem Text für den Audioguide ihr Buch „Recherche Haushofer. Annäherung an den Autor der Moabiter Sonette“ zu veröffentlichen. Ausschlaggebend war der Friedhof, auf den Opel von ihrem Moabiter Balkon schauen kann. Auf dem ehemaligen Schulgarten hat Haushofer seine letzte Ruhestätte gefunden. Der Audiowalk endet dort.

Ist Opel, die sich in ihrem Buch als „Individualtouristin der Geschichte“ bezeichnet, Haushofer näher gekommen? „Ich habe kein schärferes Bild von ihm bekommen. Nicht nur im politischen, sondern auch im persönlichen Bereich war er sehr widersprüchlich“, sagt sie. „Aus seinen Briefen spricht schon eine ganz frühe Lebensabkehr. Andererseits war da auch ein zähes Festhalten am Leben, zum Beispiel auf der Flucht nach dem 20. Juli 1944.“ Und hätte Haushofer den Krieg überlebt, hätten sich auch die Alliierten mit seiner Widersprüchlichkeit auseinandersetzen müssen. Auf einer Liste für die Nürnberger Prozesse stand sein Name. Wohl bei wenigen war der Grat zwischen Mittäterschaft und Widerstand so schmal wie beim Autor der Moabiter Sonette.

Text: Uwe Rada

Berlin-Köpenick, Juni 1933: Trauerzug für die während der Blutwoche erschossenen SA-Männer Foto: BPK

Geschichtsstunde mit Smartphone: Ein Audiowalk zur Köpenicker Blutwoche von 1933

Es ist sicher nicht der schönste Spaziergang, den man in Köpenick machen kann, wohl aber der historisch beeindruckendste: Der Audiowalk zur sogenannten Köpenicker Blutwoche führt schmerzlich die Allgegenwart rechten Terrors bereits kurz nach Beginn der NS-Herrschaft vor Augen.

Nur wenige Monate nach der Machtergreifung erreichte die Gewalt der paramilitärischen Organisationen der SA und der SS in den wenigen Tagen zwischen dem 21. und 26. Juni 1933 einen Höhepunkt. Bis zu 500 Personen, hauptsächlich politische Gegner, wurden von SA-Trupps in Sturmlokale verschleppt, gefoltert, teilweise ermordet und anschließend in die Dahme geworfen. Bekannt sind 24 Todesopfer. Vor allem tobte der Terror im Arbeiterviertel Elsengrund nordöstlich vom S-Bahnhof Köpenick.

Dort startet der vom Smartphone via App „Radio Aporee“ begleitete Audiowalk der wegen der Pandemie geschlossenen Gedenkstätte im ehemaligen Amtsgerichtsgefängnis Köpenick. Die dafür erforderliche, etwas wackelige Gratis-App funktioniert zwar eher so mittelmäßig, sodass während des historischen Rundgangs mehrere Neustarts erforderlich sind, aber irgendwie geht es schon.

Und so führt der Audiowalk durch einen kleinen Teil der Gartenvorstadtsiedlung, die ähnlich wie Hufeisensiedlung oder Siemensstadt für Arbeiter:innen zwischen 1918 und 1929 errichtet wurde, um die Wohnungsnot in Berlins Mietskasernen zu mindern.

Spaziergang mit historischem Kontext

Die Machtergreifung bereitete diesem mehrheitlich von der Arbeiterbewegung geprägten und sozialdemokratisch wählenden Arbeiteridyll in Köpenick ein jähes Ende. Und das ist beim Spaziergang in der Gegenwart mit dem historischen Kontext auf dem Ohr durchaus eindrucksvoll, weil die Wohnanlage dem Anschein nach weitgehend erhalten geblieben ist.

Am 21. Juni umstellte die SA-Köpenick unter Leitung von Herbert Gehrke die Arbeitersiedlung Elsengrund mit Listen politischer Gegner in der Hand. Sie durchsuchte Wohnungen, verhaftete Antifaschisten, Sozialdemokraten, Kommunisten sowie Gewerkschafter und brachte diese in SA-Sturmlokale in der Nähe, die Stützpunkte der paramilitärischen Terrororganisation.

Einige der bekanntesten Mordopfer sind der Sozialdemokrat Richard Aßmann, der Vorsitzende der SPD in Köpenick Erwin Mante, der Gewerkschafter Paul von Essen sowie der SPD-Reichstagsabgeordnete Johannes Stelling. Sie wurden zusammen mit anderen antifaschistischen und organisierten Arbeiter:innen verschleppt, gefoltert und teilweise ermordet. Die Leichname der Opfer fand man größtenteils in der Dahme.

Der Audiowalk führt exakt vor die Wohnhäuser, an denen heute zu DDR-Zeiten aufgehängte Gedenkplaketten und später verlegte Stolpersteine an die NS- Opfer erinnern. So auch vor das Haus von Anton Schmaus, der während der Hausdurchsuchung in Notwehr drei SA-Männer erschoss und sich später im nahe gelegenen Wald in Hirschgarten versteckte, bis er sich schließlich der Polizei stellte. Obwohl er zum Schutz vor der SA auf die Wache am Alexanderplatz gebracht wurde, schoss SA-Führer Gehrke ihm tags darauf im Polizeigewahrsam in den Rücken, woraufhin Schmaus von der Mitte abwärts gelähmt im Polizeikrankenhaus in Mitte lag. Dort wurde er gut ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1934, von der SA angeblich zu einem Verhör abgeholt, währenddessen er ermordet wurde – sein Körper war von frischen Misshandlungen gezeichnet.

Weder Polizei noch Bevölkerung schritten ein

Der Tod der SA-Leute hingegen wurde von den Nationalsozialisten propagandistisch ausgeschlachtet: Sie bekamen als „Märtyrer der nationalsozialistischen Idee“ ein Staatsbegräbnis, bei dem Propagandaminister Goebbels eine Rede hielt.

Noch während der Köpenicker Blutwoche wurde Johann Schmaus, der damals 54-jährige Vater von Anton Schmaus, von der SA misshandelt und im Schuppen des Nutzgartens seines Hauses aufgehängt. Die SA stellte den Mord als Suizid dar. Die Mutter, Margarethe, wurde ebenfalls verschleppt und misshandelt, ebenso die 13-jährige Tochter und ein Schwager von Anton Schmaus. Angehörige verloren ihre Arbeit, das Haus wurde enteignet. Um die Opfer weiter zu demütigen, wurde die Straße im Elsengrund nach den getöteten SA-Männern benannt. Mittlerweile ist das Haus wieder im Familienbesitz und die Straße nach Johann und Anton Schmaus benannt.

Noch mehr Audiowalks

Die App „radio apo­ree/miniatures for mobiles“ hat der Medienkünstler Udo Noll entworfen. Mit ihr lassen sich auf einer Karte einzelne Sound-„Miniaturen“ als GPS-Standorte auf einer Karte platzieren. Geht man mit geöffneter App und aktiviertem GPS in den Umkreis einer solchen Miniatur – spielt sie eine Audiodatei ab. Es gibt mittlerweile viele Menschen, die über die Plattform Beiträge, akustische Spazier- und Rundgänge hochgeladen haben. Die App ist klein und im Play Store und Appstore erhältlich.

In Berlin gibt es neben dem Audiowalk zur Köpenicker Blutwoche unter anderem einen Rundgang zur Geschichte und Gegenwart vietnamesischer Migration in Lichtenberg („Silent Moves“), einen postkolonialen Spaziergang durchs afrikanische Viertel in Wedding („post/koloniale Metropole“), eine Rundfahrt mit Berlins ältester Ubahnlinie („Unterwegs mit der U1“), einen historischen Audiowalk zum Kudamm-Pogrom 1931, wiederum durch die SA („Kudamm 31“) oder einen Spaziergang über den Neuköllner Markt am Maybachufer („Berlin Maybachufer Market Walks“ (taz)

Weder Polizei noch Bevölkerung schritten bei den fünftägigen Terroraktionen ein. Die Polizei saß im heutigen Finanzamt in der Seelenbinderstraße, wo der Audiowalk nach dem für die Verhaftungen reaktivierten Amtsgefängnis und einem ehemaligen SA-Sturmlokal – heute ein Kindergarten – hinführt. Dort erfährt man, dass die von Hermann Göring aufgestellte Hilfspolizei zwar nicht die SA umfasste, diese sich aber dennoch als Angehörige des neuen Staatsapparats fühlte, woraufhin ein völlig entgrenzter Terror einsetzte. 100.000 Menschen wurden reichsweit verhaftet.

Die Hinterbliebene Liddy Kilian des Kommunisten Götz Kilian erklärt in einem Original-Tondokument (wohl aus der Nachkriegszeit) ihre Machtlosigkeit, als sie versuchte, die Polizei einzuschalten: „Der Polizeihauptmann erklärte uns, dass er nicht in der Lage sei einzugreifen, weil der Polizei jede Macht zum Schutz der Bevölkerung genommen sei. Die Aktion selbst sei von Hermann Göring geführt und befohlen.“

DDR-Denkmal erinnert

Der Historiker Stefan Hördler ordnet ein: „Die Köpenicker Blutwoche war Experimentierfeld für Gewalt des Nationalsozialismus. Das Nichtreagieren von Polizei, Justiz und Bevölkerung zeigt, wie stark dieses System schon gefestigt war – wahrscheinlich auch viel stärker, als es selbst erwartet hatte.“ Die stattfindenden Polizeiermittlungen nach den SA-Morden wurden per Erlass von Göring kurz darauf im Juli 1933 eingestellt.

In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurden nach dem Krieg zwischen 1947 und 1951 in mehreren Verfahren 15 beteiligte SA-Männer zu Tode, 13 zu lebenslanger Haft und weitere zu kürzeren Haftstrafen verurteilt. Tonaufzeichnungen des Gerichtsprozesses, in der App nachzuhören, zeugen von der Unverfrorenheit der Täter, während man vor dem Park an der Alten Spree steht, wo heute ein DDR-Denkmal an die Köpenicker Blutwoche erinnert.

Der Hauptangeklagte, ein SA-Mann Plönzke, verleugnete die Gewalttaten beharrlich, Schlaginstrumente in den Sturmlokalen seien etwa Staubwedel gewesen. Die Empörung im Gerichtssaal ist beim Hören des historischen Tondokuments quasi greifbar. Aber auch Opfer wie der durch die Misshandlungen fast vollständig erblindete Erwin Mante sagten aus und belasteten Plönzke und andere – er hätte neben anderen mit Fußtritten, Fahnenstangen, Gummiknüppeln, Rohrstöcken und alten Militärsäbeln auf die Gefangenen eingeschlagen.

Die Prozesse überschatteten damals im Übrigen bereits den aufkommenden Kalten Krieg. Einer der Vorwürfe gegenüber dem Westen allerdings stimmt laut Audiowalk: Von der DDR gestellte Auslieferungsersuche für am Terror beteiligte SA-Männer, die sich im Westen aufhielten, wurden fast allesamt abgelehnt.

Text: Gareth Joswig

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1 Kommentar

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Die Bordsteine sind glaube ich erstmal so hoch, damit weniger Menschen von Autos überfahren werden, die mal schnell auf den Gehsteig ausweichen - weniger um Leute beim Flanieren zu diskriminieren. Da wird - wie auch in vielen anderen Bereichen auch schon lange ziemlich viel für Menschen getan, die nicht so gut den Bordstein raufkommen. Wie in vielen anderen Bereichen auch - es wird z.B. deutlich teuerer gebaut, um diese Normen einzuhalten, was dann wieder ärmere Menschen beim Wohnen diskriminiert, die nicht behindert sind aber das teure Wohnen mitbezahlen müssen bzw. es sich eben nicht mehr leisten können.

    Ich denke mal die Welt wird besser, wenn man das versucht konstruktiv auszugleichen. Exzessive Diskriminierungsjagden helfen glaube ich niemandem und die Motivation zum erbaulichen Flanieren sollte man auch aufbringen ohne sie aus einem übertriebenen Anti-Diskriminierungskampf ziehen zu müssen.