Gänse-Streit in Niedersachsen: Bauern rupfen Minister
In Niedersachsen geht ein Rechtsstreit um die Entschädigung Gänse-geschädigter Bauern zuende. Die „Bild“ feiert das als Niederlage des Umweltministers.
Davon stimmt – wie so oft – nur ein Bruchteil. Schulte darf sich tatsächlich über 75.000 Euro Entschädigung freuen. Rastende Wildgänse hatten ihm sein Grünland kahlgefressen und so verkotet und verpatscht, dass auch die traurigen Überreste unbrauchbar waren. Schulte musste sich das Futter für seine Kühe woanders besorgen. Das ist ein Problem, das viele ostfriesische Bauern kennen. Ob sie deshalb aber auch in den Genuss so hoher Entschädigungszahlungen kommen, ist – anders als der Bild-Text suggeriert – immer noch hoch umstritten.
Die Vorgeschichte ist lang, verwickelt und absurd. Sie beginnt 2017 – also zu einer Zeit, in der der Umweltminister noch Olaf Lies (SPD) hieß und gegen einen Bescheid des Innenministeriums klagte, das damals von seinem Parteikollegen Boris Pistorius (SPD) geführt wurde. Das Innenministerium war ins Spiel gekommen, weil es die „Enteignungsbehörde“ ist. Wenn Flächen für Straßen, Wege oder andere Vorhaben im öffentlichen Interesse enteignet werden müssen, erscheint diese Zuständigkeit ja auch erst einmal einleuchtend.
Zwei Ministerien haben sich nicht zu verklagen
Als teilweise Enteignung gilt allerdings auch, wenn naturschutzrechtliche Auflagen die Nutzung einer Fläche erheblich einschränken – der Bauer also mit seinem Feld nicht einfach machen darf, was er will. So landete die Enteignungsbehörde im niedersächsischen Naturschutzgesetz – und die umstrittenen Entschädigungsanträge einiger ostfriesischer Bauern auf einem Schreibtisch im Innenministerium.
Dort hielt man die entstandenen wirtschaftlichen Schäden für so gravierend, dass man mehreren Bauern Entschädigungssummen zwischen 39.000 und 75.000 Euro zusprach. Gezahlt werden sollten diese wiederum aus dem Etat des Umweltministeriums, weshalb dieses gegen die Bescheide klagte – auch weil es die Berechnungen fachlich zu beanstanden fand.
2024 befand das Verwaltungsgericht Oldenburg in dieser Sache, dass sich zwei Ministerien in derselben Landesregierung nicht zu verklagen hätten. Ein solcher „In-sich-Prozess“ sei unzulässig, man solle diese Streitigkeiten durch einen Kabinettsbeschluss, Weisungen und Verwaltungsvorschriften intern klären.
Landesbetrieb soll über Entschädigungen entscheiden
Gegen diesen Beschluss hatte das Umweltministerium Berufung eingelegt, weshalb die Angelegenheit ans Oberverwaltungsgericht wanderte. Dort hat das Umweltministerium aber nun in zwei Fällen seine Berufung zurückgezogen – auch weil man in der Zwischenzeit die Zuständigkeiten neu sortiert hat. Zukünftig wird nur noch der Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) als nachgeordnete Behörde des Umweltministeriums über Entschädigungsforderungen entscheiden, das Innenministerium ist raus.
Was damit allerdings nicht entschieden ist: ob die Entschädigungszahlungen durch das Innenministerium korrekt berechnet wurden und angemessen sind. Die erlassenen Bescheide treten jetzt in Kraft – über alle anderen Anträge entscheidet der NLWKN.
Wenn sich der Landwirt Hero Schulte, der nebenbei auch noch stellvertretender Vorsitzender des Friesischen Verbandes für Naturschutz (FVN) und begeisterter Jäger ist, also von der Bild zitieren lässt mit den Worten: „Jetzt kann jeder Landwirt dem Land die Schäden durch Wildgänse in Rechnung stellen. Die Landesregierung muss zahlen. Das Urteil bezieht sich nicht nur auf Flächen in Vogelschutzgebieten, sondern auf alle Gebiete. Die Regierung muss sich jetzt überlegen, ob sie jährlich Schadensersatzforderungen im dreistelligen Millionenbereich zahlen will.“ Dann verspricht er seinen Mitbauern möglicherweise ein bisschen viel.
Das Umweltministerium glaubt jedenfalls nicht, dass es seinen Haushaltsansatz deshalb jetzt so weit in die Höhe schrauben muss, wie ein Sprecher auf taz-Anfrage erklärt. Grundsätzlich hält man die Zahlungen, die jetzt schon geleistet werden, für ausreichend.
Nordische Wildgansarten verlassen im Spätsommer ihre Brutgebiete in Nordskandinavien und Sibirien, um den Winter in wärmeren Gebieten zu verbringen. Dazu gehört auch die norddeutsche Küste.
Bauern in Niedersachsen und Schleswig-Holstein beklagen deshalb große Schäden auf ihren Feldern.
Wie groß die Populationen in den vergangenen Jahren geworden sind, ist umstritten, ebenso ihre Auswirkung auf den Schutz von Wiesenvögeln. Das niedersächsische Umweltministerium geht von eher stagnierenden Beständen aus, Landwirte beklagen explodierende Populationen.
Wildgänse dürfen nur eingeschränkt bejagt werden. Grau-, Kanada- und Nilgänse dürfen von Mitte Juli bis Mitte Januar geschossen werden, in EU-Vogelschutzgebieten bis Ende November. Die Jagd auf Ringel-, Bläss-, Saat- und Nonnengänse ist seit 2014 untersagt.
In den EU-Vogelschutzgebieten können die Landwirte über die Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen (AKUM) einen finanziellen Ausgleich für ihren Mehraufwand beantragen. Dafür müssen sie den nordischen Gastvögeln zwischen November und März allerdings auch störungsarme Rast- und Nahrungsflächen anbieten.
Bei Großschäden durch sogenannte Rastspitzen können Bauern weitere Leistungen beantragen. Hier rückt eine Expertenkommission der Landwirtschaftskammer zur Begutachtung an. Diese Leistungen sind allerdings freiwillig, es gibt keinen Rechtsanspruch.
Wer hohe Schäden hat, bleibt auf den Kosten sitzen
Wer dann immer noch glaubt, er sei einer „unzumutbaren Belastung“ (so formuliert es das Gesetz) ausgesetzt, der kann versuchen, eine angemessene Entschädigung nach dem Bundesnaturschutzgesetz einzufordern. Das Umweltministerium glaubt, dass dies nur in wenigen Fällen vorkommen wird. Andererseits könnten sich natürlich nun viel mehr Landwirte ermutigt fühlen, Schäden geltend zu machen und sich auf die nun gültigen Bescheide zu berufen.
Manfred Tannen, der das Thema für das Landvolk Niedersachsen lange beackert hat und mit seinem Betrieb in Ostfriesland selbst betroffen ist, hofft vor allem auf vernünftige Neuregelungen. „Wir hoffen, dass damit anerkannt ist, dass die Schäden schon ein deutliches Stück darüber hinausgehen, was man unter dem Stichwort ‚Sozialpflichtigkeit des Eigentums‘ sonst so hinnehmen muss“, sagt er.
Das gilt insbesondere für die Gebiete, wo die Landkreise ihre Schutzgebietsordnungen so streng verfasst haben, dass nicht mal mehr einfache Vergrämungsmaßnahmen wie Vogelscheuchen, akustische Signale oder Aufscheuchen zulässig sind. „Da müssen Sie danebenstehen und gucken, wie die Gänse die Felder leer fressen.“
Außerdem fordert das Landvolk seit Jahrzehnten, die Entschädigungen stärker an den tatsächlichen Schäden auszurichten – und weniger mit Pauschalbeträgen zu arbeiten. „Die werden niemandem gerecht, weil es diese Durchschnittsfälle gar nicht gibt“, sagt Tannen. Wer hohe Schäden zu verzeichnen hat, bleibt meist auf einem guten Teil der Kosten sitzen. Dafür streichen andere Bauern deutliche Mitnahmeeffekte ein. „Das Rastspitzenmanagement ist da zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.“
Das letzte Wort ist in diesen Angelegenheiten jedenfalls noch lange nicht gesprochen – das letzte Gerichtsurteil ganz gewiss auch nicht.
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