Gabriel hofiert Trittin bei Buchvorstellung: Der könnte auch Kanzler
SPD-Chef Gabriel schmeichelt dem Grünen Jürgen Trittin bei dessen Buchvorstellung. Dabei warnt „Stillstand made in Germany“ vor der Großen Koalition.
BERLIN taz | Jürgen Trittin weiß gerade nicht, wo er hingucken soll. Neben ihm gießt der Vizekanzler eimerweise Lob der klebrigeren Sorte aus. „Ich schätze Jürgen Trittin außerordentlich“, charmiert Sigmar Gabriel. Humorvoll, klug, offen sei dieser Politiker. Fair. Kollegial. Außerordentlich verlässlich. Ein Linker, aber kein Dogmatiker. Die Serie schmeichelnder Attribute des einen Ex-Umweltministers über den anderen Ex-Umweltminister nimmt gar kein Ende mehr. Trittin blättert mechanisch in seinem druckfrischen Buch. Hier und da rutscht ihm ein verlegenes Grinsen raus.
Die beiden Niedersachsen kennen sich seit 24 Jahren. Sie liefen sich 1990 über den Weg, da war Gabriel gerade frisch für die SPD in den Landtag geprescht. Trittin sei damals schon Europaminister gewesen, er selbst noch „ein Jungspund“, tiefstapelt Gabriel. Keine Frage: Hier klopft heute der Sieger dem Verlierer auf die Schulter. Schließlich sitzt der SPD-Vorsitzende seit der Bundestagswahl als stellvertretender Regierungschef an den Schalthebeln der Macht, Trittin hingegen hat sich nach seinem Rückzug von der Fraktionsspitze der Grünen die Rolle als graue Eminenz angeeignet und plötzlich Zeit für andere Dinge. Bücher zum Beispiel.
Gabriel hat diese Zeit eigentlich nicht, dennoch gibt er an diesem Montagmorgen den beflissenen Rezensenten. Ein Jahr nach der Bundestagswahl ist Trittins Buch „Stillstand made in Germany“ erschienen. Es ist ein Plädoyer gegen die Große Koalition, die nicht zum „Dauerzustand“ werden dürfe – also auch eine Attacke auf Gabriel. Der nimmt es sportlich. Die Überzeugung, es stets besser zu können als alle anderen, dürfte der Merkel-Stellvertreter schließlich auch von sich selbst kennen.
„Sozialdemokraten zu provozieren ist Jürgen Trittins nebenberufliche Lieblingstätigkeit“, witzelt Gabriel. Über dessen Vorwürfe gegen ihn als Energieminister fegt er mit gespielter Empörung hinweg. Zur Behauptung etwa, er habe ein „Faible“ für Braunkohle: „Ich habe ein paar Faibles im Leben“, versichert Gabriel, „aber die gehören nicht in diese Veranstaltung.“ Den Vorwurf, die Große Koalition bremse die Energiewende aus, wischt er als „populistisch“ beiseite.
Trittin teilt in seinem Buch allerdings nicht nur gegen die schwarz-rote Bundesregierung aus. Er skizziert ein grundsätzlicheres politisches Dilemma, das auch die Grünen betrifft. Die politischen Mehrheiten in Deutschland haben sich verschoben. Rot-Grün im Bund ist Geschichte. Alternativen? Relevante Teile der Linkspartei wollten lieber „beim Modell der Veränderung durch Opposition im Parlament bleiben“, schreibt Trittin.
Zu Schwarz-Grün fällt ihm ein Jahr nach den erfolglosen Sondierungen mit Merkel und Seehofer im Bund nach wie vor kein nettes Wort ein. In seiner solchen Koalition würde „die ökologische Transformation mit den Kräften der Beharrung gemeinsam am runden Tisch verabredet“, wettert Trittin. „Ökologisch wäre Schwarz-Grün eine Verlängerung der institutionalisierten Mutlosigkeit und Beharrung, repräsentiert durch Angela Merkel, veredelt durch das unverbindliche Bio-Siegel einer entmutigten grünen Partei.“ Da die SPD derzeit nur die Union als Koalitionspartner habe, drohe die Große Koalition zur ständigen Einrichtung zu werden und mit ihr ein politisches „Biedermeier 2.0“.
Den Machtmenschen Gabriel allerdings scheint das nicht halb so zu betrüben wie Trittin. Er regiert – unter den schlechten Möglichkeiten ist das gerade die beste. Was aus Trittin noch werden könne, wird er gefragt. „Der kann alles“, antwortet Gabriel. Kanzler gehe rein rechnerisch nicht. „Das wäre aber auch das einzige Hindernis.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr