Gabriel García Márquez und Berlin: „Berlin ist eine irre Stadt“
Journalist, Literaturnobelpreisträger, Teil der taz-Geschichte: Gabriel García Márquez würde nun 91 Jahre alt.
1959 schrieb ein junger kolumbianischer Journalist über Westberlin, an dessen äußerstem Zipfel die Köpenicker Straße liegt, es sei ein „gigantisches Unternehmen des Kapitalismus mitten im Machtbereich des Sozialismus“. Autor dieser Zeilen war der spätere Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez.
Mit Anfang 30, lange vor seinem Durchbruch als Schriftsteller, reiste er durch das sozialistische Osteuropa der ausgehenden 1950er Jahre und fand sich plötzlich in der geteilten Metropole wieder. „Berlin ist eine irre Stadt“, schrieb García Márquez und meinte irre im Wortsinne.
Erstaunt beschreibt er die Straßen des Westens, „die en bloc aus New York hierher verpflanzt zu sein scheinen“, und „provisorische Parks“ in noch nicht wiederaufgebauten Bezirken. Im Osten begegnen ihm hingegen „rauchgeschwärzte Säulenreste“ und „von Moos und Gras gespaltene Fundamente“ auf der einstigen Prachtstraße Unter den Linden. Am meisten beeindrucken ihn jedoch die Zuckerbäckerbauten der Stalinallee – heute Karl-Marx-Allee. Deren Dimension an monumentalem Kitsch sei „ebenso überwältigend wie ihre Geschmacklosigkeit“.
Das System, das die Oberhand gewann
Zwanzig Jahre später, 1978, kehrt García Márquez zurück nach Berlin, jedoch in Form gedruckter Lettern. Die frisch gegründete linke Tageszeitung, die taz, veröffentlicht ihre erste Ausgabe – „Null-Nr. 1“ steht im Zeitungskopf. Mit einem Artikel über die Sandinisten, eine linke Widerstands- und Guerrillagruppe in Nicaragua, steuert García Márquez zwei der sechzehn Seiten bei.
In seinem Reisebericht von 1959 schrieb der Kolumbianer, dass in dem Fall, dass kein Krieg ausbricht, in fünfzig oder hundert Jahren eines der beiden Systeme die Oberhand gewinnen und Berlin wieder eine einzige Stadt sein werde. Doch nicht irgendeine Stadt, so schrieb er, „eine monströse Handelsmesse, die aus den Gratismustern der beiden Systeme besteht“.
Wäre García Márquez noch am Leben, würde er am heutigen Dienstag 91 Jahre alt. Und würde er Berlin besuchen, könnte er auch heute noch die taz lesen und in Kreuzberg, im kapitalistischen Westberlin, in einem Museum ebenjenes System hinterfragen, das vor fast dreißig Jahren „die Oberhand“ gewann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül