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GEW-Landeschef zum Schulstart„Das können wir uns nicht leisten“

In Niedersachsen fehlen zum Schulstart hunderte Lehrer:innen. Stefan Störmer von der GEW warnt vor einer weiteren Überlastung der Lehrkräfte.

Ist in Niedersachsen Mangelfach: Musik Foto: Robert Michael/picture alliance
Ralf Pauli
Interview von Ralf Pauli

taz: Herr Störmer, nach Angaben des Bildungsministeriums sind zum Schulstart in Niedersachsen am Donnerstag mehrere hundert Stellen unbesetzt. Sie schätzen die Zahl der fehlenden Lehrkräfte sogar auf 8.000. Rechnet sich die Landesregierung den Personalmangel schön – oder wie kommen Sie auf so unterschiedliche Zahlen?

Stefan Störmer: Der Personalmangel wird seit Jahrzehnten schöngerechnet. Vor ein paar Jahren haben wir zusammen mit der Universität Göttingen eine Arbeitszeitstudie durchgeführt und festgestellt, dass die Lehrkräfte in Niedersachsen deutlich zu viel arbeiten. Eine Arbeitskommission im Kultusministerium hat das übrigens bestätigt und eine Reform der Arbeitszeitverordnung vorgeschlagen. Legt man diese Daten zugrunde, kommt man auf die fehlenden 8.000 Lehrkräfte. Dazu fehlen noch 3.000 Fachkräfte aus dem pädagogischen und therapeutischen Bereich sowie der Schulsozialarbeit.

Im Interview: Stefan Störmer

Stefan Störmer,

55 Jahre, ist Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen. Der ausgebildete Gymnasiallehrer für Deutsch und Biologie ist seit 2001 in verschiedenen Funktionen für die GEW aktiv. Seit 2015 ist Störmer Mitglied der SPD.

Bildungsministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) musste im vergangenen Schuljahr die schlechteste Unterrichtsversorgung seit Beginn der Aufzeichnungen vor 20 Jahren hinnehmen. Wie wirkt sich der Personalmangel auf die Unterrichtsqualität aus?

Wenn Personal fehlt, verteilt sich die Arbeit auf weniger Schultern. Das führt – wenn man keine Abstriche bei den Aufgaben machen möchte – zu einer enormen Zusatzbelastung. Wir beobachten schon seit Jahren, dass diese Belastung sehr hoch ist. Wenn sie noch weiter ansteigt, werden sich potenzielle Lehrkräfte zunehmend die Frage stellen, ob sie diesen Beruf noch ergreifen möchten. Wir beobachten, dass die Zahlen der Lehr­amts­an­wär­te­r:in­nen aktuell bereits zurückgehen.

Am heutigen Mittwoch verkündet die Bildungsministerin, wie sie gegen den Personalmangel vorgehen möchte. Bekannt ist, dass sie unter anderem die Hürden beim Quereinstieg abbauen und Einfachlehrkräfte leichter anerkennen möchte. Was halten Sie davon?

Die Maßnahmen sind in der jetzigen Situation sicher alle angezeigt, wir haben aber Zweifel an der Wirksamkeit. Nehmen Sie den Quereinstieg. Das sind Personen, die auch auf dem freien Arbeitsmarkt Jobs finden und nicht darauf angewiesen sind, an die Schulen zu gehen. Zum Teil werden sie woanders auch besser bezahlt. Dieser Pool ist nach meiner Auffassung ziemlich abgegrast. Der Anteil der Quer­ein­stei­ge­r:in­nen bei den Neueinstellungen betrug zuletzt auch nur 7 Prozent, also nicht gerade viel.

Was bleibt also? Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat Anfang der Woche noch den freiwilligen Einsatz pensionierter Lehrkräfte ins Spiel gebracht. Wie realistisch finden Sie den Vorschlag?

Wir wissen, dass drei Viertel der Lehrkräfte schon vor Eintritt ins Pensionsalter ausscheiden. Oft aus gesundheitlichen Gründen. Insofern kann ich mir schwer vorstellen, dass die Zahl der pensionierten Lehrkräfte, die wieder freiwillig an die Schulen zurückkommen, sehr groß sein kann. Man muss aber auch festhalten, dass die jetzige Landesregierung nicht allein die Schuld am dramatischen Personalmangel trägt. Das haben mehrere Landesregierungen vorher mit verschuldet. Es ist eine Fehlerkette über 15, 20 Jahre.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission hat den Ministerien Anfang des Jahres empfohlen, in der akuten Personalkrise die hohe Teilzeitquote bei Lehrkräften zu senken­.

Die Teilzeitquote senkt man nicht durch Anordnung. Sondern indem man die Kol­le­g:in­nen in die Lage versetzt, das Arbeitspensum bewältigen zu können. Bei der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission klang es so, als ob das per Dekret verordnet werden könnte. Das wird kontraproduktiv sein. Die meisten Lehrkräfte gehen ja nicht in Teilzeit, weil sie Teilzeit arbeiten wollen, sondern weil sie sonst ihren Job nicht schaffen. Kolleg:innen, die reduzieren, sagen uns: Wenn ich Vollzeit arbeite, kann ich meinem Anspruch nicht gerecht werden. Statt über weitere Belastungen nachzudenken, muss die Politik den Beruf wieder attraktiver machen.

Die sinkende Attraktivität des Berufs sieht man auch an der Statistik. In Niedersachsen ist die Zahl der fertigen Re­fe­ren­da­r:in­nen zwischen 2012 und 2022 von 3.151 auf 2.373 zusammengeschmolzen. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Die jungen Kol­le­g:in­nen er­leben die Arbeitsbelastung hautnah. Von Re­fe­ren­da­r:in­nen oder Studierenden, die zum ersten Mal ein Schulpraktikum machen, hören wir immer häufiger: Was ich hier erlebe, ist nicht mein Traumjob, bis zur Pension werde ich das nicht machen. Die hohe Abbrecherquote im Studium spricht eine deutliche Sprache. Offensichtlich hat sich herumgesprochen, dass der Job im schlimmsten Fall krank macht.

Die GEW Niedersachsen hat im Sommer rund 600 Re­fe­ren­da­r:in­nen und frische Lehrkräfte zur Ausbildung befragt. Was sind die Ergebnisse?

Bei den Re­fe­ren­da­r:in­nen berichtet mehr als die Hälfte von Angstzuständen und wünscht sich mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Gleichzeitig meldet ein Großteil zurück, dass sie die Arbeit eigentlich gerne machen. Auch ein anderes Ergebnis hat uns ehrlicherweise sehr erschreckt: Eigentlich alle Kol­le­g:in­nen fühlen sich nach dem Referendariat schlecht auf den Lehrerjob vorbereitet. Offenbar bereitet das Referendariat vor allem auf die Abschlussprüfung vor – nicht auf den Berufsalltag.

Re­fe­ren­da­r:in­nen kritisieren vor allem den ständigen Druck und die vielen Lehr- und Unterrichtsproben. Das Niedersächsische Bildungsministerium selbst spricht von vielen „stressbelasteten Prüfungs­situationen“ im Referendariat, sieht aber keinen Handlungsbedarf.

Diese Haltung kann ich absolut nicht nachvollziehen. Wir haben in unserer Rechtsberatung jede Woche mindestens zwei Fälle, in denen sich Re­fe­ren­da­r:in­nen an uns wenden, weil sie mit dem Druck nicht um­gehen können. Diese Zahlen haben sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Das können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen dringend eine Reform der Ausbildung, um diese Leute zu halten.

Wie sähe diese Reform konkret aus?

Bisher haben wir ja drei Phasen der Ausbildung: Studium, Referendariat und dann eine dreijährige Probezeit. Wie das Unterrichten funktioniert, erlernen die Lehrkräfte erst so richtig in der Probezeit. Deshalb fordern wir, die Praxis­anteile im Studium deutlich zu erhöhen, um den Praxisschock abzumildern. Gleichzeitig würden wir Referendariat und die Probezeit zusammenzulegen zu einer Einführungsphase. An deren Ende stünde dann aber nicht die Staatsprüfung, sondern eine Bewährungsfeststellung.

Was wäre der Vorteil?

Der Vorteil wäre, dass die angehenden Lehrkräfte bereits am Ende des Studiums auf eine Planstelle gehen können. In der Einführungsphase müsste es aber auch auch ein besseres Coaching für die Re­fe­ren­da­r:in­nen geben.

Viele Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Thüringen und Sachsen-Anhalt testen mittlerweile das duale Studium, um angehende Lehrkräfte besser auf den Beruf vorzubereiten. Niedersachsen bisher nicht. Wären Sie dafür?

Nicht unbedingt. Denn wenn die duale Ausbildung funk­tio­nieren soll, dann braucht es auch eine gute Betreuung vonseiten der Hochschulen. Dazu benötigen sie entsprechend viel Personal.

Im Frühling hat die Landesregierung einen Schulgipfel einberufen. Wie gut stehen denn die Chancen für eine Reform des Lehramtes?

Auf dem Schulgipfel haben wir Ideen ausgetauscht. Auch im Landtag wurde über eine Reform des Lehramts diskutiert. Laut Koalitionsvertrag soll sich die Ausbildung künftig nicht mehr nach Schulformen richten – sondern nach den verschiedenen Jahrgangsstufen. Wir begrüßen diese Idee, auch wenn die genaue Ausgestaltung offen ist. Wichtig ist, dass wir zügig in die Umsetzung kommen. Es ist offensichtlich, dass das Lehramt in der jetzigen Form seine Ziele verfehlt.

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7 Kommentare

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  • Was ist das für eine kranke Gesellschaft, die für Waffen 100 Milliarden ausgibt und Lehrer*innen und Pfleger*innen auswringt, bis sie nicht mehr können?

    • @tomás zerolo:

      Das ist eine Gesellschaft im Superkapitalismus.

      Es zählt nur noch "noch mehr Gewinn", auch wenn das unmöglich ist.

      Das Individuum zählt nicht mehr, es soll nur noch als Rädchen funktionieren.



      Ist das Rädchen kaputt oder krank, dann hat das Rädchen Pech gehabt und wird ersetzt.

      Schon klar, warum Deutschland immer mehr ausländische Fachkräfte anwirbt - die eigenen Leute kann Deutschland nicht mehr ausbilden, dazu ist das Schulsystem völlig kaputt.

      • @Tyramizou:

        Ganz genau so ist es. Und wenn man gewisse "Parteien" fragt, dann soll es auch genau so bleiben...

    • @tomás zerolo:

      Was soll daran krank sein? Freilich sind Lehrer*innen und Pfleger*innen wichtig, die Verteidigungsfähigkeit unseres Staatswesens aber natürlich ebenso, unsere Demokratie muß wehrhaft bleiben und das halt nicht nur gegen deren inländische Feinde…

    • @tomás zerolo:

      Ich weiß nicht ob sich dieses Problem nur mit Geld lösen lässt. Die Besoldung der Lehrer wurde über viele Jahre immer wieder erhöht. Im Ergebnis haben viele Lehrerinnen dann aber nur noch Teilzeit gearbeitet. Inzwischen liegt diese Quote bei fast 50% und steigend. Das gleiche Phänomen sehen wir jetzt auch bei den Erzieherinnen. Lehrer gehen interessanterweise dagegen sogar nur zu 20% in Teilzeit und liegen damit sogar unter der 28% Quote in der freien Wirtschaft. An der Arbeitsbelastung wie gern behauptet, kann die hohe Teilzeitquote also nicht liegen, es sei denn Lehrerinnen würden härter arbeiten als Lehrer.

    • @tomás zerolo:

      Das ist eine Gesellschaft die sieht, dass der Frömmste nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt .

    • @tomás zerolo:

      Das ist eine Gesellschaft, die ausschließlich einen Wert kennt: Profit. Das Bildungswesen kostet, bringt aber (erst mal) nichts ein. Waffen hingegen bringen Gewinne und zwar recht schnell. Bis die Kinder im Erwerbsleben sind und helfen, Gewinne einzufahren, dauert es. Das ist weder der Politik noch den Vorständen in der Wirtschaft zuzumuten. Die einen denken nur (!) an die nächste Wahl, die anderen nur (!) an den sofortigen Profit. Da bleibt für Zukunft kein Platz mehr...