Fünf Jahre „Wir schaffen das“: Geschafftes Land
Am 31. August 2015 sprach Kanzlerin Angela Merkel ihre berühmten drei migrationspolitischen Worte. Heute ist von der Willkommenskultur wenig übrig.
D ie drei berühmten Worte, die irgendwann ins Denkmal für die Bundeskanzlerin gemeißelt werden könnten, hatten einen Vorbau, der mir nicht in Erinnerung geblieben ist, mir aber heute wie eine glasklare Warnung vorkommt.
Am 31. 8. 2015 sagte Angela Merkel in der Bundespressekonferenz: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“
Wenn ich mir in dem Moment damals klargemacht hätte, wie die BRD bis dahin im Umgang mit ausländischen und geflüchteten Leuten „so vieles geschafft“ hat, hätte ich die Alarmsirenen wahrscheinlich gehört: Achtung, es kommt noch schlimmer.
Was „wir“ seitdem tatsächlich geschafft haben, lag nicht erst Anfang März 2020 klar auf dem Tisch: Als die Situation im türkisch-griechischen Grenzgebiet explosiv wurde, ertönte in Deutschland vielstimmig der Ruf: Nie wieder 2015! Als wäre der – zumindest für kurze Zeit sichtbare – humanitäre Akt 2015 eine Katastrophe gewesen, unter der wir heute noch schwer zu leiden haben.
„Nie wieder 2015!“ – diese Pervertierung des antifaschistischen Slogans „Nie wieder Faschismus“ kam nicht nur von den Rechtsextremen, sondern von fast allen Politiker*innen der Mitte, von CSU bis SPD und weiter rein in die schwer kalkulierbaren Gebiete links davon.
Die absolute Bankrotterklärung, die der Deutsche Bundestag mit einem Kniefall vor der AfD abgab, wurde am 4. März 2020 gemeldet: Der Antrag, wenigstens 5.000 besonders Schutzbedürftige aus dem griechischen Krisengebiet aufzunehmen, wurde mit fast allen Stimmen der Koalition plus kompletter AfD-FDP-Einheitsfront abgelehnt (nur drei Stimmen bei den sogenannten C-Parteien für den Antrag, nur zwei bei den Fake-Sozis, während Grüne und Die Linke geschlossen dafür stimmten). Zu diesem Ereignis sowie zur folgenden noch viel mieseren Entwicklung könnte mir nur dann ein scheinbar höflicher Kommentar einfallen, wenn mir jemand eine geladene Knarre an den Kopf hält.
Keine Überraschung, dass sich die Oberchristen Söder und Seehofer in dieser jüngsten Deutschland-in-Gefahr-Phase besonders für unser Land engagierten, ehe sie aufgrund von C19- und Polizei-Krisen ihre Interessen etwas verlagern mussten. Der amtierende Bundesinnenminister, damals noch bayerischer Ministerpräsident, hatte schon 2015 besonders schnell einen totalen Schaffensdrang verspürt und sprach schon am 9. Oktober von einer Situation, in der „wirksame Notwehr“ und „Notwehrmaßnahmen“ notwendig werden könnten, und „dabei erwägt er offenbar, im Zweifel auch Maßnahmen zu ergreifen, die rechtlich nicht gedeckt sind“ (Süddeutsche Zeitung).
„Erfolge“ in Bayern
Nur einen Monat später konnte der heutige BRD-Chefordnungshüter schon Vollzug melden: „Wir haben jetzt zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen die schärfsten Regeln, die es jemals in unserem Land gab – mit Zustimmung der SPD!“ Und auch in Bayern wurden bis Weihnachten 2015 viele weitere Erfolge geschafft: „Wenn die CSU dieser Tage auf Facebook eine gute Nachricht verkünden will“, schrieb Franz Kotteder in der Süddeutschen am 19. 12., dann komme dabei nicht „Christ ist geboren!“ heraus, sondern: „Bayern verdreifacht Zahl der Abschiebungen!“ So viel zu den ersten Monaten dieser fünf Jahre, die sozusagen eine solide Basis für die folgenden Schaffenskräfte bildeten.
Im Angesicht dieses bedeutenden Jubiläums will ich aber auch was Freundliches einbringen. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi hatte beim Interview mit dem Spiegel am 30. 6. 2020 nicht Deutschland, sondern Europa im Visier und fasste die Stimmung so zusammen: „Ehrlich gesagt, kommt ohnehin jedes Mal, wenn europäische Politiker sich treffen und über Flüchtlingspolitik reden, nicht viel Gutes dabei heraus. Da braucht es gar keine Krise. Die Furcht vieler Politiker vor der Flüchtlingsfrage ist inzwischen vollkommen unverhältnismäßig. Angela Merkel scheint mir diejenige zu sein, die noch am ehesten mit gesundem Menschenverstand agiert.“
Im Sommer 2015 sind Hunderttausende Menschen auf der Suche nach Schutz nach Deutschland und in andere Länder Europas geflohen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich vor die Kameras und versprach: „Wir schaffen das.“ Was ist seither passiert? Was haben „wir“ geschafft? Wie geht es den Menschen heute? Ein taz-Dossier über Flucht und Ankunft. Alle Texte finden Sie in unserem Schwerpunkt Flucht: taz.de/flucht
Als Hobbysprachforscher bin ich natürlich immer an den sprachlichen Knackpunkten interessiert, für die sich zu viele Germanen viel zu selten interessieren. Als Deutschlehrer würde ich daher meine Leute liebend gern mit der Aufgabe quälen, doch bitte einmal den Ausdruck „noch am ehesten“ zu interpretieren.
Türkisch verboten
Vielleicht wird Meltem Ö., die zurzeit eine Erzieherinnen-Lehre macht, diese Aufgabe eines Tages einigen Leuten stellen. Die mir bis dahin unbekannte junge Frau saß Mitte Juli bei einer Veranstaltung, die ich besuchte, auf dem Podium und erzählte, dass sie und andere Deutschtürken (wie sie selbst sich nennt) in ihrer Schule, die sie vor neun Jahren abgeschlossen hat, täglich mit dem rassistischen Verhalten ihrer Mitschüler*innen konfrontiert waren – und nicht nur angequatscht, bedrängt, gemobbt wurden: Es war den Deutschtürken an ihrer Schule verboten, in der Schule türkisch zu sprechen.
Franz Dobler sammelt nach Feierabend Spenden für den Augsburger Flüchtlingsrat. Hauptberuflich ist er Schriftsteller. Am 10.8. läuft im ZDF „Nicht tot zu kriegen“, die Verfilmung eines seiner Romane. Am 10.10. erscheint sein Gedichtband „Ich will doch immer nur kriegen, was ich haben will“.
Als Frau Ö. das erzählte, fragte ich mich nicht nur, ob man dieses Lehrerpack auch heute noch vor ein Gericht bringen könnte, sondern auch, wie man jemals auf die Idee kommen konnte, dass die Deutschen irgendwas schaffen könnten, was sie noch nie geschafft hatten. Und warum auch ich vor fünf Jahren wahrscheinlich für ein paar Minuten oder Tage gedacht hatte, da könnte tatsächlich was geschafft werden, was Geflüchteten was hilft, und die diversen Nazi-Trupps, wenn schon nicht bis zur Hölle, dann doch etwas zurückdrängt.
Mit diesen fünf Jahren im Kreuz schließe ich mit den Worten, die ich für meine Mitstreiter*innen vom Augsburger Flüchtlingsrat nach bestem Wissen und Gewissen bei einer Veranstaltung gesagt habe: Für unsere Arbeit als Flüchtlingsrat ist es nicht so wahnsinnig wichtig, stolz auf Deutschland zu sein – wir wären schon zufrieden damit, uns weniger dafür schämen zu müssen.
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