Frohes neues Jahr!: Neujahrsgrüße nach Deutschland
Wie blicken die Menschen in Europa auf uns? Was wünschen sie sich – was wünschen sie uns? Die taz-Korrespondent*innen haben sich umgehört.
V ielerorts in Europa sind Korrespondent*innen für die taz unterwegs. Einige von ihnen schicken uns Neujahrsgrüße aus ihren Wahlheimaten zurück nach Deutschland.
Aus einer irischen Wahlkabine
Liebe deutsche Wählerinnen und Wähler! Ihr dürft im Februar wählen. Dann tut das auch! Es dauert nicht lange, ein Kreuzchen zu machen. Bei uns in Irland ist das komplizierter, denn wir nummerieren die Kandidatinnen und Kandidaten in der Reihenfolge unserer Präferenz. Das dauert. Vielleicht sind deshalb bei der Wahl Ende November mehr als 40 Prozent zu Hause geblieben.
Ich habe eine halbe Stunde in der Wahlkabine verbracht, um die Namen so zu sortieren, dass die Rechtsextremen keinen Fuß auf den Boden bekommen. Das ist geglückt. Euch in Deutschland wird das nicht gelingen. Es gibt zu viele, die den Faschisten glauben, obwohl sie ihnen die Höcke voll lügen.
Mein Freund und Kollege Derek Scally von der Irish Times meint, dass die Deutschen langweilige Wahlkampagnen mögen. Sie hatten genug Aufregung für zwei Jahrhunderte, sie wollen Stabilität. „Was am 6. November geschah, war die Ausnahme. Live im Fernsehen verwandelte sich der Kanzler von einem sanftmütigen Hamburger Anwalt in einen Scholzilla, entließ seinen Finanzminister und schickte ihm mehrere rhetorische Raketen hinterher“, sagt Derek. „Für deutsche Verhältnisse war das eine heiße Sache.“
John, ein verrenteter Gewerkschafter, freut sich über das Lindner-Aus: „Diese Gurken werden bei den Wahlen unter fünf Prozent bleiben, und dann ist es mit diesem Narzissten endgültig vorbei. Dann kann er sich in Ruhe der Vermehrung seines Vermögens widmen.“ SPD und Grüne hätten das eigentlich wissen müssen, findet John: „Wer mit Hunden ins Bett geht, steht mit Flöhen auf.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wolfgang, ein Deutscher, der seit 20 Jahren in Irland lebt, weist auf einen Artikel in der Zeitschrift Rolling Stone hin. Dort vergleicht der Autor die Zitate der Regierungsstreithähne mit dem Zwist der Gallagher-Brüder von der Band Oasis. Scholz sagte: „Streit auf offener Bühne hat viel zu lange den Blick auf das verstellt, was diese Regierung zusammen vorangebracht hat.“ Noel Gallagher sagte über seinen Bruder Liam: „Er ist der wütendste Mann, den du je kennenlernen wirst. Er ist wie ein Mann mit einer Gabel in einer Welt voller Suppe.“
Scholz sagte, er habe mit Bundespräsident Steinmeier telefoniert und ihn um die Entlassung Lindners gebeten. Noel Gallagher sagte inhaltlich dasselbe über Liam: „Wir sagten ihm einfach, er solle sich verpissen. Und er ging schmollend weg!“
Die irischen Wettbüros tippen auf eine Große Koalition. Was anderes wird kaum übrig bleiben. Es könnte trotzdem eine interessante Wahl werden. In Irland sind Wahlen eher langweilig, am Ende kommt immer das Gleiche heraus. Wir wählen seit der Staatsgründung vor über hundert Jahren immer dieselben beiden konservativen Parteien, ob Wirtschaftskrise oder Aufschwung, ob Krisen oder Kriege, ob wankende Demokratien oder ungewisses Europa-Projekt. Aber wenigstens haben wir die Rechtsextremen für weitere fünf Jahre aus dem Parlament ausgesperrt. Das wird Euch leider nicht gelingen.
Trotz alledem: Ein gutes neues Jahr!
Wünscht euch euer Ralf Sotscheck
Aus der frisch wieder eröffneten Notre-Dame
Meine Lieben in Deutschland!
Na, das hattet ihr nicht erwartet. Geradezu belgische Verhältnisse in Frankreich, in diesem Land, das auch ohne Regierung nicht besser oder schlechter funktioniert als mit. Das ist halt auch Politik und in der französischen Verfassung sogar vorgesehen.
Lange schaute man aus Frankreich mit einem gewissen Neid auf den Erfolg der deutschen Exportwirtschaft und die finanzielle Stabilität im Nachbarland. Doch heute würden sich viele Franzosen und Französinnen die Mahnungen zu mehr Haushaltsdisziplin verbitten: „Kehrt doch lieber vor der eigenen Türe!“
Drücken wir uns also lieber, über den mehr verbindenden als trennenden Fluss der Loreley, gegenseitig die Daumen. An populistischen Miesmachern und Predigern des Nieder- und Untergangs mangelt es ohnehin nicht. Seien wir – gegen den Strom, trotz allem oder erst recht – Optimisten!
Denn Krisen haben meist den positiven Effekt, dass sie Bewegung in erstarrte Institutionen bringen. Die späten Nachfahren der Großen Revolution, der Sansculotten und Pariser Kommunarden sind auch in der jüngeren Geschichte immer wieder für Überraschungen gut, um Neuerungen durchzusetzen oder die allzu selbstzufriedenen Machthaber das Fürchten zu lehren.
Wer hätte gedacht, dass die Kathedrale Notre-Dame schon fünf Jahre nach dem verheerenden Großbrand im April 2019 in neuem Glanz eingeweiht werden könnte. Präsident Emmanuel Macron prahlt damit – es war indes bloß seine Vorgabe, nicht aber sein Werk und auch nicht sein Geld. Gewürdigt werden sollten vielmehr die Steinmetze, Restaurateur*innen, Bauarbeiter*innen und mit ihren Spenden auch die Zigtausenden von Mäzen*innen. Sie haben es möglich gemacht, dass diese zunächst so unwahrscheinlich anmutende Wette gehalten wurde. Dass Macron diesen Erfolg nun auf sich lenken und als Exempel einer „Union nationale“ verkaufen will, verwundert niemanden.
Andere mutmachende Entwicklungen spielen sich derzeit vor Gerichten ab. Die Opfer sexualisierter Gewalt gehen zur Gegenoffensive über. Die Scham wechselt die Seite, wie beim Prozess in Avignon, der eine Zeitenwende im Kampf gegen sexualisierte Gewalt einläuten könnte. Vor Gericht standen wegen Vergewaltigung neben Dominique Pelicot, der seine Frau Gisèle betäubt und Dutzenden von Männern ausgeliefert hatte, auch 50 Mitangeklagte, und mit ihnen ihre antiquierten sexistischen Vorstellungen männlicher Macht. Das Urteil dürfte über Frankreich hinaus einen exemplarischen Charakter bekommen.
Lange Zeit hat ganz Europa große Hoffnungen in die deutsch-französische Zusammenarbeit gelegt. Wünschen wir uns, in einem übermütigen Anflug von Zukunftsvertrauen, dass diese Partnerschaft 2025 wieder in Gang kommen möge! Mit einer gewissen Bescheidenheit in eigener Sache und dem Eingeständnis, dass keine der beiden Nationen der anderen wirklich etwas vormachen oder vorwerfen kann.
Aus Paris, euer Rudolf Balmer
Vom Tresen einer Espressobar in Italien
Liebe Menschen in Deutschland, ihr glaubt gar nicht, wie weit entfernt euer Land von Italien ist. Okay, am Ende liegen bloß knappe 70 Kilometer Österreich zwischen Italiens Nord- und eurer Südgrenze – doch so wirklich kriegt kaum jemand in Rom, Turin, Mailand oder Neapel mit, was in Deutschland so passiert.
So gut wie alle am Tresen der Espressobar zucken mit den Achseln auf die Frage, was jetzt aus Deutschland wird und wie es in Berlin weitergehen soll. Der Kanzler hat den Finanzminister rausgeschmissen? Welcher Kanzler? Welcher Finanzminister? Ach, Olaf Scholz heißt der Regierungschef? Und Christian who?
Wirklich überraschend ist die Unkenntnis nicht. Als Scholz Christian Lindner am 6. November vor die Tür setzte, hatten Italiens Medien andere Sorgen, war doch in den USA gerade Donald Trump zum Präsidenten gewählt worden. Und auch sonst sind Krisen anderswo viel spektakulärer als die in Berlin. Abend für Abend berichten die TV-Nachrichten aus Paris, reden von Macron, Mélenchon, Barnier, Le Pen – nicht von Scholz, Merz, Habeck oder Weidel.
Auch vorher regte Deutschlands Regierungschef die Phantasie der Italiener*innen nicht an – er flog hier genauso unter dem Radar wie zu Hause. In einer Umfrage von 2023 nach einflussreichen Leadern der Welt kommt er – anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez – gleich gar nicht vor.
Wie anders war das noch vor gar nicht langer Zeit. Im Jahr 2021 galt Angela Merkel gleich 64 Prozent der Italiener*innen als vertrauenswürdige Weltenlenkerin, weit vor allen anderen, vor Joe Biden, Ursula von der Leyen oder Macron. „Anatra zoppa“, lahme Ente nennt jetzt dagegen die Nachrichtenagentur Ansa den Kanzler. Auch das ist Niedergang, genauso wie der Niedergang ganz Deutschlands, den Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni jedes Mal gerne andeutet, wenn sie über die Wirtschaft in Europa spricht.
„Stärker als Frankreich, stärker als Deutschland“ werde Italien nach den Prognosen der OECD auch im Jahr 2025 wachsen, verkündete sie vor einigen Tagen wieder. Für Frankreich ist das zwar geflunkert – das Land wächst gegenwärtig stärker als Italien – für Deutschland aber dürfte Melonis Ansage stimmen. Denn so bescheiden die für 2024 erwarteten 0,5 Prozent an Zuwachs Italiens beim BIP sind, so überholen sie doch die deutschen 0,0 Prozent allemal. „Nicht mehr Lokomotive, sondern letzter Waggon“ in Europa, lästert die Politik-Website Affaritaliani.it über die „rabenschwarze Krise“ Deutschlands. Wenigstens von der Krise der deutschen Automobilindustrie haben auch die Kund*innen am Tresen der Espressobar gehört, dank der TV-Berichte über die Warnstreiks bei VW.
Dann aber reden sie in der Espressobar doch von wenigstens einem Feld, auf dem „la Germania“ Wachstumszahlen vorzuweisen hat. Die „nazisti“ von der AfD seien ja kräftig im Kommen, wirft einer in die Runde und setzt nach, mit der „stabilità“, der altgewohnten und gerne auch heimlich bewunderten Stabilität in Deutschland, sei es ja auch nicht mehr weit her.
Aus Rom, euer Michael Braun
Vom schwedischen Gartenzaun
Liebe Leute in Deutschland!
Wie geht’s euch da unten, so ohne Wind? Oder habt ihr das gar nicht mitbekommen? Hier jedenfalls, 1.500 Kilometer weiter nördlich, war es gerade eine Schlagzeile: Rekordhohe Strompreise in Südschweden – wegen Windstille in Deutschland. Flaute in der deutschen Windkraft heißt nämlich Stromimport aus Schweden, und dann wird die Elektrizität auch hier teurer.
Ich werde schon unzufrieden angeguckt, wenn das Gespräch darauf kommt. Als Deutsche kann man die Menschen in Schweden energiepolitisch aber noch mehr verwirren, wenn man erzählt, dass man in Berlin mit Gas geheizt hat – das klingt für sie kurios. Und wie billig dieses Gas war, als es noch aus Russland kam!
Schweden kommt kaum hinterher, die Krisennachrichten aus Deutschland zu analysieren, und die nostalgischen Töne sind dabei nicht zu überhören. Da unten irgendwo liegt ein Land, stabil und sicher, der Anker Europas und zugleich die Lokomotive, die die kontinentale Wirtschaft zieht: So stellte sich Deutschland für die Schweden sehr lange dar. Jetzt blicken sie stattdessen nervös auf die deutsche Wirtschaft. Schlechte Nachrichten aus Wolfsburg werden fast persönlich genommen. VW ist schließlich der größte Investor beim einstigen schwedischen Batterie-Hoffnungsträger Northvolt.
Interessanterweise hält sich die alte Bewunderung für deutsche Autos hingegen hartnäckig und blitzt weiterhin gelegentlich als irrationaler Pluspunkt für mich auf. Mal gucken, wie lange noch. Schwedische Wirtschaftsanalytiker lassen sich jedenfalls nicht mehr blenden: Das Problem der verschlafenen E-Auto-Entwicklung haben sie eiskalt erkannt. Sie diagnostizieren zudem, dass Deutschland sich zu lange auf den Exportmarkt China verlassen habe. Häme ist dabei weniger zu hören, dafür ist Schweden selbst in der Exportwirtschaft zu abhängig von Deutschland.
Der jüngste deutsche Kracher flog hier anfangs unter dem Radar, weil alle nur auf die US-Präsidentschaftswahl starrten. Aber dann war das Staunen groß. Jetzt auch noch ein Regierungskollaps? Weitere Unsicherheitssignale, auf die man gerne verzichtet hätte. Doch aus Schreck wurde Hoffnung: Vielleicht kommt ja eine große Koalition, überlegt eine Expertenstimme im Radio, vielleicht könnte sie ja mehr Stabilität und mehr Beschlusskraft bringen …
Ihr seht, Schweden zittert mit Deutschland, zumindest der Teil, dem die Abhängigkeiten bewusst sind. Das ist nicht die Mehrheit – im Alltag haben die meisten anderes zu tun. Mein Nachbar zeigte sich immerhin schon zweimal interessiert: „Warum um Himmels Willen telefoniert Scholz mit Putin?“ Das fand er nicht gut. Und dann natürlich: „Kleine Regierungskrise bei euch, was?“ Das Gespräch war aber eher grobmaschig angelegt. Nach ein paar Sätzen erwähnte er schon Merkel und Kohl, und ich bestätigte, dass er sich die Namen richtig gemerkt hat.
Das war’s, und wir konnten wieder über den schwedischen Winter reden: Der bringt zu wenig Schnee und zu viel Eis bisher. Passt irgendwie ins Gesamtbild. Aber keine Sorge, beruhigte mich der Nachbar, der Schnee wird kommen. Und in Deutschland hoffentlich der Wind!
Aus Härnösand, eure Anne Diekhoff
Aus der Schlange vor einem Kiosk in der Ukraine
Was erwarten sich die Menschen in Kyjiw von der Wahl in Deutschland? „Die Ukrainer denken erst mal an die Ukrainer. Und zwar an diejenigen, die ihnen nahe stehen und die sie lieben“, sagt ein Mann, der neben mir in einer Schlange am Kiosk steht und auf seinen Kaffee wartet.
Wann die wohl wären, die Wahlen, fragt er mich und fügt dann etwas ungehalten hinzu: „Wir haben jetzt Anfang Dezember. Und Sie wollen mit mir über ein Ereignis sprechen, das am Ende des Winters stattfindet. Wissen Sie, was davor noch alles kommt? Davor muss ich zweimal meine Miete und meine Strom- und Heizungskosten bezahlen und meiner Frau Haushaltsgeld geben. Und das alles bei 600 Euro Monatslohn. Bei 3 Euro für ein Kilo Tomaten kann man mit 600 Euro keine großen Sprünge machen.“
Er jedenfalls sei froh, wenn er bis zum 23. Februar irgendwie über die Runden komme und nicht in den Krieg müsse. Der einzige deutsche Politiker, dessen Namen er kennt, ist Scholz. Aber so groß werde der Unterschied zwischen Scholz und seinem Widersacher ja wohl nicht sein, meint er. Auf das aktuelle Chaos in Deutschland angesprochen, antwortet er: „Wie gern hätte ich eure Probleme. Ihr könnt wenigstens wählen. Das ist bei uns nicht möglich.“ Wenn sich überhaupt etwas an der aktuellen Situation in der Ukraine ändern würde, meint er, würde es an Donald Trump liegen. Er sehe gespannt auf den 20. Januar, den Tag seiner Amtseinführung. Irgendwie sei dieser Trump doch sympathisch.
Am nächsten mobilen Kaffeebüdchen redet sich ein anderer Mann in Rage: „Scholz ist doch der Regierungschef, der uns den Taurus nicht geben will und der mit Putin telefoniert hat.“ Der Mann trägt einen schwarzen Mantel, denn es ist kalt und ein scharfer Wind pfeift durch die Straßen. Unter dem Mantel lugt ein Rock hervor, der Mann muss ein orthodoxer Geistlicher sein. „Wenn die Opposition in Deutschland drankommt, kriegen wir den Taurus“, sagt er. Hofft er.
Er ist nicht der einzige Ukrainer, der sich den Marschflugkörper wünscht. Zwangsrekrutierungen lehnen die Ukrainer mehrheitlich ab. Die Lieferung der Taurusraketen würden sie begrüßen. Wer will schon gerne in den Schützengraben. Der orthodoxe Geistliche zumindest hofft, dass Scholz nicht wiedergewählt wird.
Anna, eine Arzthelferin, hat Angst vor weiteren Raketen: „Wir in Kyjiw müssen die russische Antwort ertragen, wenn die wieder mit Raketen Russland beschießen.“ Sie kommt aus der Gegend bei Sumy und pendelt zwischen dort und der Hauptstadt. Inzwischen habe sie verstanden, dass oft das Gegenteil von dem eintrete, was versprochen werde. „Der ukrainische Angriff auf das russische Gebiet von Kursk sollte unser Gebiet sicherer machen. Tatsächlich werden wir jetzt in Sumy viel stärker aus der Luft angegriffen als früher.“ An die Luftangriffe habe sie sich fast schon gewöhnt, sagt Anna. An die Totenwagen jedoch nicht. Jeden Tag, sagt sie, fahren sie ein in ihre Heimatstadt Konotop.
Nicht vergessen werde ich wohl die Verkäuferin, die mich vor einigen Tagen in Lwiw in einer Bäckerei bediente. Jeden Tag um 9 Uhr morgens wird in Lwiw über Lautsprecher zu einer Schweigeminute aufgerufen. Man hört dann über die Lautsprecher ein Klopfen. Ich wollte gerade mein Brot bezahlen, da begann sie. Die Frau hielt inne und fing an zu weinen. Ich hatte sie eigentlich zu den Wahlen in Deutschland befragen wollen. Doch schließlich zahlte ich und ging. Ich traute mich einfach nicht.
Aus Kyjiw, euer Bernhard Clasen
Aus einer Metrostation in Athen
Liebe Miteuropäer in Deutschland,
das furiose Ampel-Aus, eine veritable Wirtschaftskrise, das enorm beängstigende Erstarken der AfD: Klar, was in Deutschland gerade passiert, kommt nahezu in Echtzeit an den Füßen der Akropolis an.
Die Griechen können ein Lied davon singen, was Krise bedeutet. In den 2010er Jahren galt Hellas als das „unartige Kind“, gar „Europas schwarzes Schaf“. Ein deutsches Magazin stellte die Griechen als die „Betrüger in der Eurozone“ an den Pranger. Sie hätten sich in den Euro hineingemogelt, auf Pump weit über ihre Verhältnisse gelebt, so der Vorwurf. Es folgten drastische Kürzungen bei Löhnen und Renten, zahlreiche wirtschaftliche und gesellschaftliche Grausamkeiten: Griechenland hatte einen rigorosen Sparkurs durchzuführen.
Die hiesige Wirtschaftsleistung brach um ein sagenhaftes Viertel ein. Von dieser großen Depression hat sich Athen bis heute nicht erholt. Die Griechen machten die Bundesregierungen unter Kanzlerin Angela Merkel für das „deutsche Spardiktat“ in Athen verantwortlich. Der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble avancierte in den Augen der Griechen zur Hassfigur. Und nun? Steckt Deutschland selbst in der Krise.
Alexis Angelopoulos glaubt, dass es Deutschland noch „vergleichsweise gut“ gehe. Hinter Zigaretten, Kaugummis und Schokolade wartet der Wirtschaftsstudent im Kiosk an der Athener Metrostation Doukissis Plakentias auf seine Kundschaft. Der 24-Jährige jobbt immer dann hier, wenn seine Kollegen einen freien Tag genießen, und wohnt im Hotel Mama ganz in der Nähe. Eine eigene Wohnung ist für ihn nicht drin. Dass die deutsche Wirtschaft in der Rezession steckt, findet er nicht gut. Von Häme keine Spur. „Deutschlands Krise tut Europa nicht gut“, sagt er.
Etwas andere Töne schlägt Sokrates Leriou an. Der 63-Jährige redet sich in seinem gelben Taxi in Rage, wenn er an die 2010er Jahre zurückdenkt. Sein Umsatz sei damals um 60 Prozent eingebrochen, erinnert er sich. „Deutsche Politiker und Medien warfen uns vor, dass wir Griechen angeblich faul seien. Ich sitze seit 32 Jahren am Steuer, täglich zehn Stunden, oft an sieben Tagen in der Woche. Nun stellt sich heraus: Die Deutschen arbeiten viel weniger als wir Griechen!“, ätzt er.
Schadenfreude, Häme oder Spott empfindet jedoch auch er nicht. Im Gegenteil: „Ich will nicht, dass Deutschland Probleme hat. Hat Deutschland auch nur einen leichten Schnupfen, kriegen die anderen Länder in Europa eine Erkältung.“ Den Deutschen wünsche er nur eines: „Gute Besserung.“
Dem pflichtet Jannis Tsakiris bei. Der 83-jährige Rentner ist frisch rasiert und trägt einen Nadelstreifenanzug – früher besaß er eine eigene Schneiderei. Die Rente sei ihm jedoch um 6.000 Euro im Jahr gekürzt worden. Dieser Abzug sei bis heute nicht ausgeglichen worden. „Und seien Sie versichert, das wird nie passieren“, sagt er bitter.
„Fühlen Sie Schadenfreude, Häme oder Spott, Herr Tsakiris?“ „Οχι“, erwidert er prompt – „Nein!“
Statt Häme fühle er Mitleid mit den einfachen Leuten in Deutschland. Der kurzen und knackigen Zustandsbeschreibung in den griechischen sozialen Medien stimmt Tsakiris jedenfalls unverblümt und sofort zu: „Deutschland ist kaputt.“
Und „kaputt“ versteht hier jeder Grieche, auch ohne eine Übersetzung.
Aus Athen, euer Ferry Batzoglou
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