Friedrich Merz' Start ins Kanzleramt: Die Stress-Koalition
Holprige Kanzlerwahl, für Friedrich Merz klappte es erst im zweiten Wahlgang. Wenn Schwarz-Rot jetzt schon patzt, wie stabil kann die Regierung dann werden?

Die Schulklasse aus Coesfeld kommt an diesem Mittwochmittag genau im richtigen Moment am Reichstag vorbei. Elf Frauen und Männer in Sakkos und Blazern haben sich vor dem Gebäude auf den Stufen des Spreeufers aufgestellt, um sie herum jede Menge Journalisten mit Kameras. Müssen wohl Promis sein, die Jugendlichen bleiben also stehen.
Matthias Miersch, gerade zum Vorsitzenden der SPD-Fraktion gewählt, gibt das Kommando: „Jetzt richten wir den Blick, auch wenn’s schwerfällt, mal nach rechts, aber dann gleich wieder nach links bitte.“ Wenn das so einfach wäre. Links von der SPD ist im Bundestag keine Mehrheit mehr in Sicht. Schwarz-Rot ist die einzig mögliche Regierung der Mitte, eher Notgemeinschaft als Große Koalition. Und gleich zum Auftakt fragil.
Als Friedrich Merz am Dienstagvormittag zum Kanzler gewählt werden sollte, fiel er durch. Es folgten hektische Stunden, in denen die Geschäftsordnung gewälzt, Justitiare konsultiert, Kontakte zur Linkspartei reaktiviert und mit Zweidrittelmehrheit am gleichen Tag noch ein zweiter Wahlgang beschlossen wurde. Diesmal erhielt Merz die nötige Mehrheit. Noch mal gut gegangen. Doch die Frage bleibt: Wenn Schwarz-Rot schon beim Auftakt patzt – wie stabil wird die Koalition dann? Führt Merz, der das Ampel-Chaos beenden wollte, es unter veränderten Vorzeichen fort? Wie loyal ist die SPD?
Wer hat Merz das Herz gebrochen?
Dirk Wiese, der groß gewachsene neue Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, hat sich zum Gruppenbild in die letzte Reihe gestellt. Seine Aufgabe ist es, die Abgeordneten seiner Fraktion für wichtige Abstimmungen zusammenzuhalten und den Kontakt zu den anderen Fraktionen zu suchen. Der Flop im ersten Wahlgang war „eine Überraschung, da es in der SPD-Fraktion keine Anzeichen gab, dass jemand nicht für Friedrich Merz stimmen wollte“, sagt Wiese zur taz. Er hofft, dass das ein „heilsamer Schock“ für alle Abgeordneten war. Fragt man in der SPD herum, heißt es unisono: Aus den eigenen Reihen kamen die Renegaten nicht, das Problem liege wohl in der CDU.
Zwar weiß niemand, wer die 18 Abweichler waren. Aber dass sie komplett aus der SPD stammen, ist mehr als unwahrscheinlich. Merz sprach nach dem Desaster des ersten Wahlgangs in der Fraktionssitzung ein Machtwort. Man sei hier „nicht auf einem Kreisparteitag“, sagte er. Das hieß übersetzt: Merz selbst glaubte, dass es in der Unionsfraktion Dissidenten gab. Man ahnt: Mit unbedingter Loyalität kann der Kanzler in der Unionsfraktion kaum rechnen.
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Ende Februar saß Jens Spahn in einer Talkshow und sagte lächelnd in Bezug auf Schwarz-Rot: „Alternativlos gibt es nicht.“ Spahn ist jetzt Fraktionschef, die Nummer zwei hinter Merz. Spahn, der schon die Nähe des Trump-Buddies Richard Grenell suchte, trauen viele zu, dass er eine doppelte Agenda verfolgt. Auffällig war nicht nur das maliziöse Lächeln, mit dem er im TV eine „Alternative“ für Deutschland ins Spiel brachte. Den gleichen Doppelsinn hatte seine Initiative, auch AfDler zu Ausschussvorsitzenden im Bundestag zu wählen. Das diene nur der besseren Bekämpfung der AfD, versicherte Spahn treuherzig. Möglich ist auch eine andere Lesart – die Rechtspopulisten Stück für Stück zu normalisieren.
Wird also hinter Merz' Rücken bereits dessen Sturz vorbereitet? Einer, der sich nicht scheute, Merz immer wieder öffentlich zu kritisieren, ist Dennis Radtke, Vorsitzender des Sozialflügels der CDU. In der Regierung ist die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, CDA, nicht vertreten, was Radtke öffentlichkeitswirksam anprangerte. Aber nun stellt er sich hinter Merz, sieht auch keine Anzeichen organisierten Widerstands. „Da sind unterschiedliche Motive zusammengekommen“, sagt der Europaabgeordnete zur Nichtwahl von Merz am Dienstagmorgen. In der Bundestagsfraktion habe danach „kollektives Erschrecken geherrscht, nach dem zweiten erfolgreichen Wahlgang aber kollektive Erleichterung und nun kollektive Zuversicht“.
Fakt ist, dass es im Regierungsnormalbetrieb keine weiteren geheimen Abstimmungen geben wird – und Pleiten wie bei der Kanzlerwahl damit unwahrscheinlich sind.
Die Union hat theoretisch eine Alternative – die SPD nicht
Radtke versprüht Optimismus, das muss er auch. Demnächst werden noch die Posten in der Fraktion verteilt: „Ich bin zuversichtlich, dass die CDA sich dort gut wiederfinden wird.“ Fraktionschef Spahn kenne er seit vielen Jahren, sagt Radtke. „Ich traue ihm ohne Weiteres zu, Brücken zu bauen. Denn er hat jetzt eine andere Rolle: als Brückenkopf in Richtung SPD.“ Dass Spahn hingegen in Richtung AfD blinkt, hält Radtke für ausgeschlossen. „Alle Gedankenspiele in Richtung AfD sind Gift. Wer damit spielt, der macht die CDU kaputt.“
Doch: Solche Ideen haben in der CDU einen Echoraum. Eine Minderheit findet es strapaziös, mit der störrischen, linken SPD zu regieren – und die Aussicht, sich Mehrheiten bei der AfD zu besorgen, zumindest nachdenkenswert. Der Publizist Andreas Püttmann schätzt, dass „rund ein Fünftel der Basis der CDU offen für Schwarz-Blau wäre“. Vor allem im Osten und auch im Südwesten. Denkbar ist das Szenario: Wenn Schwarz-Rot mies läuft, die Umfragen für die Union sinken, dann „kann diese Minderheit versuchen, ins Geschäft zu kommen“, schreibt Püttmann.
Das berührt die Machtarchitektur von Schwarz-Rot. Die Union hat – theoretisch – eine Alternative, wenn die Regierung scheitert. Die SPD nicht. Sie hat auf das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte mit einer seltsamen Mischung aus Ermattung, unterdrückter Panik und kühler Professionalität reagiert. Jetzt ist sie auf Wohl und Wehe darauf angewiesen, dass diese Regierung funktioniert. Und muss gleichzeitig schauen, dass sie sich in dieser nicht verliert.
Im Koalitionsvertrag stehen jede Menge Punkte unter Finanzierungsvorbehalt, über andere gehen die Interpretationen auseinander. Die Beteuerung, man habe alle Missverständnisse und offenen Fragen ausgeräumt, hielt nach der Veröffentlichung des Vertrags Mitte April nur zwei Tage. Seitdem behauptet die SPD steif und fest, man habe 15 Euro Mindestlohn vereinbart. Die Union sieht das ganz anders. Und hat, wenn man den Koalitionsvertrag liest, recht. Denn dort sind 15 Euro ein wünschenswertes Ziel, das die zuständige Kommission erfüllen kann – oder eben auch nicht. Ähnlich ist es bei der Entlastung von Geringverdienern und Mittelschicht. Die SPD hält das für ausgemacht, die Union für nice to have.
Und dann ist da noch die Frage, wie man mit der Linkspartei umgeht. Die CDU schließt eine Zusammenarbeit per Unvereinbarkeitsbeschluss aus, doch Schwarz-Rot braucht Zweidrittelmehrheiten – und damit die Linksfraktion – für die Wahl eines neuen Richters fürs Bundesverfassungsgericht. Oder für die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform der Schuldenbremse, die der SPD besonders wichtig ist. Fraktionschef Miersch sagt am Spreeufer kampfeslustig: „Wir werden alles daran setzen, dass wir diese Zweidrittelmehrheit mit Stimmen der Grünen und Linken und dieser Koalition zustande bekommen.“ Im Regierungsviertel liegen eine Menge lose Minen herum.
Die Union will diesmal mehr
Dirk Wiese möchte sich weniger Gedanken über Explosionsgefahren machen – und lieber loslegen. „Klar, es wird strittige Abstimmungen geben, Themen, bei denen wir Zugeständnisse an die Union und die Union Zugeständnisse an uns machen muss. Es wird darauf ankommen, sich gegenseitig Erfolge zu gönnen.“ Seinen Ansprechpartner, den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion, Steffen Bilger, kennt er. Beide betreuten in der vergangenen Legislatur als Fraktionsvize gleiche Themen. Wiese ist überzeugt: „Das wird gut zwischen uns funktionieren.“
Bislang galt in Großen Koalitionen: Die SPD versuchte Gerechtigkeitsideen mit programmatischen Elan durchzusetzen, die Union bremste und verwaltete die Macht. Das ist diesmal anders, komplexer. Die Union will mehr. So wie die SPD das HartzIV-Image loswerden wollte, will die Union das flüchtlingsfreundliche Merkel-Image von 2015 ausradieren. Innenminister Alexander Dobrindt will Asylsuchende in großem Stil an den Grenzen zurückweisen. Die SPD hält das für „europarechtswidrig“ und beharrt auf „Absprache mit den europäischen Partnern“.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder sieht Union und SPD „nicht nur schwächer und angeschlagener als früher“, sie liegen auch programmatisch mehr über Kreuz. Er rechnet mit „kleinen Säbeleien“ bei Migration, Wirtschafts- und Steuerpolitik, doch ohne dass es zum Bruch kommt. „Es wird aber zuweilen knirschen und krachen.“ Zusammen regieren, und den eigenen Anhang bei Laune halten – wie geht das denn zusammen? Schroeder hält eine Arbeitsteilung für möglich, bei der „die Union bei der Migration, die SPD bei Sozialem“ das Sagen hat. Keine Regierung aus einem Guss, sondern zwei Parteien, die ihre Felder beackern. So wie es Christdemokraten und Grüne mal in Österreich versucht haben.
„Eine große Koalition produziert immer auch Müdigkeit“, sagte einst Wolfgang Schäuble, der acht Jahre Minister in Großen Koalitionen war. Aber die Merz-Klingbeil-Regierung hat eine andere Dynamik. Müdigkeit wäre da vielleicht gar nicht mal das Schlechteste. Nach reibungslosem, langweiligem Regieren, das man von Großen Koalitionen kennt, sieht es jedenfalls nicht aus.
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