Frankreichs Intellektuelle und Tunesien: Stumm und peinlich
600.000 Tunesier leben in Frankreich, darunter viele Oppositionelle im Exil. Doch die Intellektuellen der einstigen Kolonialmacht haben die tunesische Revolution schlicht verpasst.

PARIS taz | Wie andere Oppositionelle ist der Politiker und Schriftsteller Moncef Marzouki nach langem Exil in Frankreich voller Hoffnung nach Tunesien zurückgekehrt. Lange haben sie alle auf diesen Tag gewartet. Gemeinsam war ihnen, dass sie wegen ihrer Ideen und Prinzipien aus Tunesien flüchten mussten oder weil sie den Herrscher Ben Ali durch Mangel an Unterwürfigkeit verärgert hatten.
Aufgrund der historischen Beziehungen und der gemeinsamen Sprache war es für diese Tunesier fast natürlich, Frankreich als Exil zu wählen. Das galt erst recht für Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und die Theater- und Filmschaffenden, für die Paris die kulturelle Metropole darstellte.
Als Wiege der Menschenrechtserklärung bot sich Frankreich gerade jenen als Exil an, die wegen ihres Kampfs für die Freiheit und die Grundrechte ihr Land verlassen mussten. Man ließ sie dort dann auch weitgehend gewähren, schreiben, produzieren und agitieren – solange dies nicht die ausgezeichneten Beziehungen Frankreichs zum Regime von Ben Ali stören konnte. Denn die frühere Kolonialmacht hielt eine wohlwollend schützende Hand über das ehemalige Protektorat und den aus Pariser Regierungsperspektive stets entgegenkommenden Partner Ben Ali.
Die besonders herzlichen Begegnungen der französischen Staats- und Regierungschefs (von links und rechts) mit dem verhassten Herrscher in Tunis mit ansehen zu müssen, nahmen die Exiltunesier, die in Frankreich keine geschlossene Gemeinschaft bilden, als Preis für ihre Aufnahme in Kauf. Im Übrigen scheinen die meisten LeserInnen der französischen Presse erst jetzt zu entdecken, wie hässlich diktatorisch und korrupt die Realität hinter der schönen Fassade des Urlaubskatalogs war.
Musterschüler Ben Ali
Moncef Marzouki schilderte in Le Monde vor seiner Rückkehr nach Tunis in einem Manifest gegen "Frankreichs gefällige Nachsicht" noch einmal, wie die Öffentlichkeit mit einem propagandistisch verfälschten Image getäuscht wurde, indem man den diktatorischen Charakter des Regimes verharmloste und Ben Ali zum Musterschüler des Westens im Maghreb und einem Bollwerk gegen den Islamismus erklärte.
In einem anderen kritischen Beitrag bezeichnet der marokkanische Schriftsteller Abdellah Taïa die tunesische Revolution nicht nur als "unerwartetes Wunder", sondern auch als Chance für ein kulturelles Erwachen des arabischen Volks aus einem neokolonialistischen Albtraum: "Man hat alles getan, damit der Araber sich nicht kultiviert. Sogar die arabischen Intellektuellen haben schließlich dieses arabische Volk aufgegeben. Abgesehen von einigen mutigen Menschenrechtsaktivisten gibt es nur wenige, die die Alarmglocken läuteten. Heute noch diskutieren diese Intellektuellen lieber über Proust oder Sartre, de Beauvoir oder Camus, als den Arabern zu helfen, ihr Bild von sich selber zu ändern."
In Frankreich leben rund 600.000 Tunesier, die die Ereignisse jenseits des Mittelmeers stündlich verfolgen. Die meisten von ihnen hätten hier ihre Existenz aufgebaut und würden nicht an eine Rückkehr denken, meint in Paris Tarek Ben Hiba, der Vorsitzende der Exilvereinigung FTCR (Fédération des Tunisiens pour une Citoyenneté des deux Rives). Gemeinsam ist fast allen die Enttäuschung über die immer peinlicher werdende Haltung des offiziellen Frankreich während des Volksaufstands.
"Das war eine Schande vom Anfang bis zum Ende. Alle (französischen) Regierungen waren nachsichtig mit der Diktatur und den Menschenrechtsverletzungen", erklärte Universitätsprofessor Chérif Ferjani von der FTCR. Geradezu grotesk war das Angebot von Außenministerin Michèle Alliot-Marie, dem bereits fallenden Regime "im Rahmen der bestehenden Kooperationsabkommen" mit dem "in aller Welt bekannten französischen Know-how in der Regelung von Sicherheitsproblemen" bei den Ordnungseinsätzen zu helfen, und dann ihr Versuch, diese unhaltbare Position nachträglich aus der Welt zu reden.
Unverständlich war auch das Schweigen der meisten französischen Intellektuellen. Ben Ali und sein Clan hatten Tunis schon verlassen, als die Presse einen Appell von sieben Philosophen, Soziologen und Hochschulprofessoren (unter ihnen Étienne Balibar, Robert Castel und Pierre Rosanvallon) veröffentlichte, die gegen das "ohrenbetäubende Schweigen" von Paris protestierten.
Wo waren die Finkielkrauts?
Die Zeitschrift Marianne sprach aber aus, was manche dachten: Wo waren denn, als die Tunesier für ihre Freiheit auf die Barrikaden gingen, die Intellektuellen, die Bernard-Henri Lévys, André Glucksmanns, Alain Finkielkrauts oder auch ein Bernard Kouchner, geblieben, die sonst immer wie Pflichtverteidiger der Menschenrechte in Iran, Tibet oder Russland auftreten?
"Unverzeihlich" nannte der in Frankreich publizierende tunesische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb das an Gleichgültigkeit grenzende "Schweigen der Intellektuellen und der Politiker". Vielleicht wurden sie vom Tempo der Entwicklung überholt, das er als eines der hervorstechenden Elemente der "Jasminrevolution" bezeichnet und in dem er eine "neue Ausdrucksform der Zeit in der Geschichte" analysiert: "Diese Revolution wurde im Wesentlichen über das Medium Internet von der digitalen Blog-Generation gemacht. Und ihr blitzartiger Verlauf entspricht der Geschwindigkeit und der Augenblicklichkeit, die dieses Mittel ermöglicht."
Meddeb meint auch, es brauche anschauliche Vergleiche. So beschreibt er den Märtyrer Mohamed Bouazizi für das europäische Verständnis als eine christliche "Erlöserfigur", er sieht in ihm, analog zum "Prager Frühling", einen Jan Palach. Der Revolution in Tunesien fehle allerdings noch ein Lech Walesa oder ein Václav Havel, räumt er ein.
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