Folgen des Ukrainekriegs: EU setzt auf mehr Verteidigung
Angesichts russischer Gefahr will Brüssel Milliarden in die hiesige Rüstungsindustrie stecken. Nur: Eigentlich ist das nationale Angelegenheit.
Begründet wird der Vorstoß, mit dem sich die EU wohl endgültig vom Ziel einer Friedensunion verabschiedet, mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch die Lage in den USA spielt eine Rolle: Brüssel will sich vor einer möglichen Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus unabhängiger machen.
„Russland brutaler Angriff auf die Ukraine hat den Krieg zurück nach Europa gebracht“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag. „Nach Jahrzehnten der Unterfinanzierung müssen wir mehr in die Verteidigung investieren – aber wir müssen es besser und gemeinsam tun.“ Konkret schlägt die Kommission vor, neue Rüstungsprojekte künftig gemeinsam anzugehen. Wenn sich mehrere EU-Länder bei der Waffenproduktion zusammentun, sollen sie bei den Mehrkosten entlastet werden. Ziel soll es sein, bis zum Jahr 2030 40 Prozent der Ausrüstung gemeinsam zu beschaffen.
Brüssel hat auch in Sachen Unabhängigkeit eine Zielmarke formuliert: So sollen bis 2030 mindestens 50 Prozent der Rüstungsgüter auf dem europäischen Binnenmarkt gekauft werden.
Derzeit fließen nach Angaben von Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager knapp 80 Prozent der Mittel in Länder außerhalb der EU, davon allein 60 Prozent in die USA. „Das ist nicht mehr tragbar, wenn es überhaupt jemals tragbar war“, sagte Vestager. Besonders viele Waffen kaufen Polen, Deutschland und die Niederlande in den USA.
Wer steuert die Aufrüstung politisch?
Frankreich hatte gefordert, mehr in Europa zu produzieren und sogar eine „Buy European“-Klausel vorgeschlagen. Damit konnte sich Paris jedoch ebenso wenig durchsetzen wie mit der Idee, ein neues, schuldenfinanziertes Rüstungsprogramm aufzulegen. Der französische EU-Kommissar Thierry Breton hatte die Zahl von 100 Milliarden Euro ins Spiel gebracht, die über Anleihen („Eurobonds“) finanziert werden könnten. Hierzu sagten jedoch Deutschland, die Niederlande und andere „frugale“ (sparsame) EU-Länder Nein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) setzt auf eine andere Methode: Alle EU-Länder sollen ihre Waffenproduktion in Eigenregie hochfahren und auch mehr Kriegsgerät in die Ukraine schicken – unabhängig von Brüssel.
Der Vorschlag der EU-Kommission ist offenbar ein Kompromiss zwischen den deutschen und den französischen Positionen. Er kommt auch der Ukraine entgegen: Sie soll künftig wie ein Mitgliedstaat behandelt werden, wenn es darum geht, gemeinsam mit anderen EU-Staaten mehr Waffen zu beschaffen. Die Aufsicht soll in Brüssel liegen. Die EU-Kommission will sogar neue Gremien schaffen und Sammelbestellungen bei Waffenschmieden wie Rheinmetall aufgeben. Das Vorgehen erinnert an die Coronakrise, bei deren Bewältigung die Brüsseler Behörde ebenfalls die Führung übernommen hatte.
Allerdings sehen die EU-Verträge diese neuen Befugnisse eigentlich nicht vor. Die Verteidigung ist bisher eine nationale Angelegenheit; jedes Land wacht eifersüchtig über „seine“ Rüstungsindustrie und „seine“ Waffen – wie sich aktuell am Streit über das deutsche Taurus-System zeigt. In Brüssel wird daher mit Widerstand nicht nur aus Berlin, sondern auch aus anderen Hauptstädten gerechnet. Dass sich die Kommission auf vier verschiedene Artikel im Vertrag über die Arbeitsweise der Union (TFEU) berufe, deute auf eine schwache Rechtsposition hin, hieß es.
Streit droht auch über die Frage, wer die europäische Aufrüstung politisch steuert. Die EU-Kommission wolle sich wie während der Pandemie neue Machtbefugnisse aneignen, argwöhnen Diplomaten und Abgeordnete. Auch die Linke sieht in dem Rüstungsprogramm einen Verstoß gegen EU-Verträge. Deren Europa-Parlamentarierin Özlem Alev Demirel sprach zudem von „Kriegswirtschaft“.
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