Folgen des 7. Oktobers: Das Leid der Überlebenden
Viele Besucher*innen des Nova-Festivals leiden unter psychischen Problemen. Nun macht die erste Familie den Suizid einer Überlebenden öffentlich.
Nach dem Vortex-Festival 2021 am Toten Meer schrieb sie „No words needed“ mit Herz- und Feueremoji. Dazu ein Foto der psychedelischen Sonnensegel über der Tanzfläche, die optisch auch vom Nova-Festival hätten stammen können, das Golan am 7. Oktober 2023 mit ihren Freund*innen besucht hatte.
Am Sonntag, den 20. Oktober, ein Jahr nach dem Nova-Massaker, das sie überlebt hatte, wurde sie zu Hause tot aufgefunden. Sie hatte sich das Leben genommen. Es war ihr 22. Geburtstag. Dem Massaker beim Nova-Festival, bei dem schwerbewaffnete Kämpfer der Hamas und anderer palästinensischer Terrororganisationen mindestens 364 Menschen ermordet, 38 nach Gaza verschleppt und unzählige vergewaltigt hatten, war Golan nur knapp entkommen.
Um 6.29 Uhr ging die Musik aus. Golan und ihr Partner versuchten zunächst, in einem Auto zu fliehen. Doch sie verließen das Fahrzeug wieder und versteckten sich stattdessen stundenlang im Gebüsch, bis ein Polizist sie fand und rettete. Die elf Insassen des Autos, mit dem sie hatten fliehen wollen – Freund*innen von ihnen – wurden alle von den Terroristen ermordet.
Tödlichster Angriff seit Holocaust
Israelis nennen den 7. Oktober inzwischen den „schwarzen Shabbat“. So viele Jüdinnen und Juden sind seit der Shoah nicht mehr an einem Tag getötet worden. Palästinensische Terroristen der Hamas und anderer Gruppen wie Islamischer Dschihad und die „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“ ermordeten fast 1.200 Menschen – zwei Drittel davon Zivilisten.
Es ist der tödlichste Angriff aller Zeiten auf ein Musikfestival. Auch das kleinere Psyduck-Festival, ein paar Kilometer entfernt, wurde angegriffen. Rund 250 Menschen wurden entführt, bis heute sind etwa 100 von ihnen noch in Geiselhaft. Ein Deal mit der Hamas für ihre Freilassung scheint auch nach dem Tod von Jahia Sinwar, dem Chef der Terrororganisation, in weiter Ferne zu sein.
In den Wochen und Monaten nach dem Angriff habe sich Golan immer mehr zurückgezogen, habe angefangen, sich zu dissoziieren, berichtet ihre Familie. Sie habe Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt. Eine offizielle Diagnose habe sie nie bekommen, obwohl sie nach dem 7. Oktober zweimal ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Ihre Mutter sei in den Vorruhestand gegangen, damit die Familie besser auf sie aufpassen könne.
„Wir haben uns keinen Millimeter von ihr entfernt, und das einzige Mal, dass wir sie allein gelassen haben, war heute, und sie hat beschlossen, sich das Leben zu nehmen“, sagte Golans Bruder Eyal dem israelischen Nachrichtensender Keshet 12 am Sonntag.
Unterstützung fehlt
Eyal Golan macht der Regierung nun schwere Vorwürfe. Er sagt, dass seine Schwester keine Hilfe vom israelischen Staat bekommen habe. Man habe sie im Stich gelassen und müsse jetzt „aufwachen“, sagte er, sonst könne es weitere Suizide geben. Das israelische Ministerium für Wohlfahrt und Soziales hingegen behauptete in der Zeitung Haaretz, dass es Unterstützung für Überlebende auf vielfältige Art und Weise biete.
Wie viele Überlebende des Nova-Festivals sich bereits das Leben genommen haben, ist nicht öffentlich bekannt. Bei einer Anhörung im Parlament im Dezember sprach Dr. Tzvia Zeligman vom Tel Aviver Sourasky Medical Center, die zum Thema sexuelles Trauma arbeitet, von „vielen Suiziden“, konnte aber auf taz-Anfrage keine konkrete Zahl nennen.
In einer Pressemitteilung des israelischen Gesundheitsministeriums im Januar hieß es: Für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2023 gebe es weniger Selbstmordfälle als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor. Auf taz-Anfrage will das Ministerium die Zahlen jedoch nicht konkretisieren.
In einer weiteren Anhörung im April behauptete ein Nova-Besucher, dass 50 Festival-Besucher*innen Selbstmord begangen hätten, eine Zahl, der das Gesundheitsministerium schnell widersprach. „Wir müssen vorsichtig sein mit Zahlen, die der Öffentlichkeit Schaden zufügen könnten“, sagte Dr. Gilad Bodenheimer, zuständig für die Abteilung für psychische Gesundheit im Ministerium.
Medizinisches Neuland
Eine Beamtin des israelischen Außenministeriums, die unter der Bedingung der Anonymität mit der taz sprach, geht von „Dutzenden“ Suizidfällen unter Nova-Überlebenden aus.
In Israel ist Suizid ein Tabu, er ist im Judentum nicht erlaubt. Und nach dem sogenannten Werther-Effekt können Selbstmordfälle steigen, wenn darüber in den Medien berichtet wird. Die Familie Golan ist die erste, die bislang öffentlich über einen Suizid unter Nova-Überlebenden gesprochen hat. Aber sie ist nicht die einzige, die davon betroffen ist.
Die psychologische Behandlung von Nova-Überlebenden ist dabei medizinisches Neuland. Sie berichten von Vergewaltigungen, Folter, Enthauptungen und Leichenschändungen. Und noch nie wurden so viele Menschen unter dem Einfluss von Drogen, darunter auch bewusstseinsverändernden Substanzen wie LSD, stark traumatisiert.
Das betrifft rund 70 Prozent der 3.500 Festival-Besucher*innen, die den Angriff überlebten, sagt die NGO SafeHeart, die nach dem 7. Oktober von Menschen aus der Festivalszene gegründet wurde, von Spenden finanziert wird und mit Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen eng zusammenarbeitet.
Spezialisierte Angebote
SafeHeart will die Überlebenden mit Therapieangeboten und neuen psychologischen Ansätzen unterstützen. „Diese spezialisierte Behandlung ist im öffentlichen Gesundheitswesen derzeit nicht verfügbar“, heißt es in einer Pressemitteilung der Organisation von diesem Monat.
Mehr als 18.000 Therapiestunden habe die Organisation im vergangenen Jahr durchgeführt. Eine wichtige Komponente der Behandlung seien Gruppentherapien, in denen Überlebende gemeinsam ihre Erlebnisse verarbeiten können.
Diese Arbeit könne auch Betroffenen anderer globaler Krisen helfen, sagt die Organisation. Zusammen mit der Universität Haifa forscht SafeHeart zu Traumata, die während veränderter Bewusstseinszustände erlebt werden. 1.250 Nova-Überlebende nehmen an der Studie teil. In einer weiteren Studie des Sheba Medical Center in Tel Aviv werden 400 Patient*innen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden – darunter viele Nova-Besucher*innen – mit einer MDMA-Therapie behandelt werden.
Auch die Stiftung Tribe of Nova, die nach dem Angriff von den Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten gegründet wurde, will die Überlebenden des Festivals unterstützen. Sie bietet „alternative Heilungsworkshops“, vergibt Zuschüsse für Behandlungen und organisiert Gedenkveranstaltungen, um Überlebenden dabei zu helfen, ihr Trauma zu verarbeiten.
Überlebende nutzen Therapieangebote
Dazu gehören auch kleinere Partys: „Weil das wichtig ist, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern“, sagte im September eine Nova-Überlebende, die bis heute an Panikattacken leidet, gegenüber der taz. 2.800 Nova-Überlebende hätten mindestens schon eine der Veranstaltungen besucht, so die Stiftung.
Für Shirel Golan ist es zu spät. Ihr Instagram-Profil zeugt von einer lebensbejahenden jungen Frau, die die Welt entdecken wollte. „To travel is to live“, schrieb sie im Februar aus dem Urlaub in Thailand. „Früher war sie voller Freude, war immer die Stimmungskanone der Party“, sagte ihr Bruder Eyal auf ihrer Beerdigung am Montag. „Danach war sie nicht mehr dieselbe.“
„Ich vermisse sie so sehr“, sagte weinend die 28-jährige Yael Tobol, die das Nova-Festival auch überlebte und Golan gut kannte. Auch sie leide bis heute an den Folgen des Massakers. „Keiner weiß, was ich nachts durchmache. Alles, was wir wollen, ist, dass sie uns helfen. Sie haben uns im Stich gelassen.“
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf unter 112 an. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter taz.de/suizidgedanken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken