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Folgen der CoronakriseLob der Provinz

Silke Mertins
Kommentar von Silke Mertins

Corona macht's möglich: Plötzlich ist die Provinz attraktiver als die Stadt und die Uncoolen sind systemrelevant.

Entspannen im Garten in Brandenburg Foto: Patrick Pleul/dpa

U nd wo wohnst du? Die angesagte Antwort darauf lautet zum Beispiel, in Berlin, Kreuzberg, Neukölln oder Prenzlauer Berg. Niemand redet gern darüber, in Orten mit Namen wie Waidmannslust oder Königs Wusterhausen in der Peripherie zu leben. In Gegenden also, wo das Leben nicht gerade pulsiert und man sich gerne auf einen Filterkaffee beim Bäcker im Eingangsbereich von Kaufland trifft.

Großstadt und Freiheit ­– diese beiden Worte waren bisher untrennbar miteinander verbunden. Dann kam das Coronavirus. Es hat für die Umkehrung der Verhältnisse gesorgt. Die Be­woh­ner:innen der coolen Stadtteile sind in der Enge ihrer Wohnungen gefangen, Cafés und Spielplätze bleiben geschlossen, die Grünanlagen, Supermärkte und öffentlichen Verkehrsmittel sind zu gefährlichen Orten mutiert.

Viele wünschen sich gerade nichts mehr, als den Corona-Frühling jenseits der Ballungsräume verbringen zu können. Die Provinz scheint plötzlich verlockend, denn was nützt es, dort zu wohnen, wo man jeden Film in der Orginalfassung sehen kann, wenn die Kinos geschlossen sind? Was hat man von der tollen Kinderbetreuung, den vielen Bildungsangeboten, wenn sie nicht stattfinden? Die Stadt hat ihre Freiheit, die unendlichen Möglichkeiten und ihre Coolness verloren. Kein Wunder, dass man sich hier besonders laut eine Rückkehr zur Vor-Corona-Normalität oder zumindest eine schnelle Lockerung der Einschränkungen wünscht.

Nicht weniger schockierend ist für viele Großstädter*innen die Erkenntnis, nicht zu den systemrelevanten Berufsgruppen zu gehören. Das Gemeinwesen funktioniert auch ohne die Werbeagentur, die Designerin, den Yogalehrer oder die Geschichtsprofessorin. Systemrelevant sind plötzlich die mit den uncoolen Jobs; Verkaufspersonal, Lkw-Fahrer, Pflegekräfte, Müllmänner. Menschen, die sich Wohnungen in begehrten Großstadtlagen oft gar nicht mehr leisten können.

Großstadt und Freiheit ­– diese beiden Worte waren bisher untrennbar miteinander verbunden. Dann kam das Corona­virus

Eine der Folgen der Pandemie muss und wird sein, dass sich die Wertigkeit dieser Berufsgruppen verändert, im Ansehen, aber besonders auch in finanzieller Hinsicht. Die Systemrelevanz sollte sich nicht nur in der Dankbarkeit der Allgemeinheit ausdrücken, sondern sich auch auf den Gehaltsabrechnungen niederschlagen. Das Virus hat schließlich nur sichtbar gemacht, was auch in normalen Zeiten Realität ist: Es klafft eine riesige Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft. In zentralen Berufsfeldern ist die Bezahlung so miserabel, dass man nur mit Mühe davon leben kann.

Auch die Provinz, die Vororte, Kleinstädte und Dörfer, erscheinen nun in anderem Licht – erheblich krisentauglicher, mit mehr Lebensqualität und weniger bedrohlicher Enge. Dort muss niemand lange Strecken zurücklegen, um ohne Sozialkontakte durch die knospende Natur zu radeln. Die Wohnungen sind größer, weil weniger knapp, und viel mehr Menschen mit durchaus durchschnittlichen Einkommen haben Balkone und Gärten, wo sich beim Umgraben des Blumenbeets oder auf der Gartenliege die Pandemie ohne Nervenzusammenbruch überstehen lässt. Die Supermärkte sind größer und selten richtig voll.

Die derzeit besonders gestressten Metropolen werden auch nach überstandener Krise nie wieder so cool sein wie vor dem Coronavirus. Unser Blick auf das, was wir als wichtig ansehen, hat sich verändert, wahrscheinlich für lange Zeit. Gerade wer Kinder hat, wird so schnell nicht vergessen, was es bedeutet, über Wochen gemeinsam in einer Stadtwohnung auszuharren und jeden Gang nach draußen mit mulmigem Gefühl anzutreten.

Die Umkehrung der Verhältnisse durch die Pandemie korrigiert eine Fehlentwicklung, die schon seit längerer Zeit besteht. Wir haben alles stets durch die Augen von Großstadtmenschen betrachtet – von der Verkehrswende bis zur Wohnungspolitik. Nun wird uns vorgeführt, dass in der Krise Ernten und Erntehelfer wichtig sind, Platz, Weite und noch viel mehr, was bisher nicht erwähnenswert schien. Ein Lob auf die Provinz.

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Silke Mertins
Redakteurin Meinung
Kommentatorin & Kolumnistin, Themen: Grüne, Ampel, Feminismus, Energiewende, Außenpolitik
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6 Kommentare

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  • Hier versucht jemand selbstkritisch zu sein und bestätigt nur die Existenz der Blase von Yogalehrer, Werbefuzzi, Professorin und taz-Journalistin.

    "Eine der Folgen der Pandemie muss und wird sein, dass sich die Wertigkeit dieser Berufsgruppen verändert, im Ansehen, aber besonders auch in finanzieller Hinsicht."

    So ein Quatsch. Eine der Folgen der Pandemie ist 12-h-Tag für Pflegepersonal und für die meisten kein finanzieller Zuschlag. Glaubt jemand, wenn da jetzt nicht was kommt, dass wenn alles vorbei ist, sich die zuständigen ihrer warmen Worte erinnern?

    Frau Mertins mag ja glauben, dass alle Stadtbewohner_innen sich nur deshalb in dei Großstadt aufgemacht haben, um in das olle Arthouse-Kino oder das schicke In-Café zu gehen. Die Realität sieht aber anders aus: der große Teil der Leute, die in den letzten Jahren vom land in die Stadt gezogen sind, in die engen, überteuerten Wohnungen ohne Balkon und Garten haben das getan, weil auf dem Land keine Jobs und keine Infrastruktur mehr existieren. "(L)ange(n) Strecken ... ohne Sozialkontakte durch die knospende Natur zu radeln..." muss man nämlich, weil es im Dorf keinen Laden mehr gibt, der Bus nicht fährt und die Nachbarn längst schon der Arbeit hinterhergezogen sind. Das wird auch nach Corona so bleiben.

    Wo es darum gehen würde, aufzuzeigen, warum Pflegerinnen, Müllmänner, LKW-Fahrer etc. so schlecht bezahlt werden und warum der ländliche Raum sozial so verwüstet ist, wird romantisiert und irreale Hoffnungen angestellt. Weil Berliner Journalistinnen, selbst wenn sie es mal versuchn, nicht aus ihrer Mittelschichtsinnenstadtblase raus finden...

    • @M Winter:

      Also zumindest die „Müllmänner“ werden sooo schlecht nicht bezahlt: Die verdienen ganz ordentlich, ist allerdings auch ein knochenharter Job...

  • "Was hat man von der tollen Kinderbetreuung, den vielen Bildungsangeboten, wenn sie nicht stattfinden? Die Stadt hat ihre Freiheit, die unendlichen Möglichkeiten und ihre Coolness verloren." Jaja, die Superlative - waren doch immer schon eher Sehnsuchtsvorstellungen als Realitäten. Klar, dass das sündhaft teure Püppi-Bespaßungs-Angebot megatoll sein muss - war ja sündhaft teuer. Auch klar, dass die Hauptnutzer solcher Angebote jetzt den Blues schieben, haben sie es doch verlernt, einfach mal NICHTS vorzuhaben oder erleben zu wollen, kurzum: bespaßt zu werden. Mein Bedauern hält sich in Grenzen. Insgeheim freue ich mich täglich über mein Wohnen auf'm Land, ganz ohne inszeniertes "Landlust"-Blingbling und weiß schon lange den wahren Reichtum wertzuschätzen: Platz.



    Bevor nun hektisch Immo-Anzeigen durchforstet werden: vergeßt es! Das Landleben ohne Landwirtschaft IST öde. Es sei denn, man weiß sich gut selbst zu beschäftigen und findet Gefallen daran, einfach auch mal NICHTS zu tun, NICHTS zu erleben und NICHTS darstellen zu wollen.

  • Ich bin da zweigeteilt. Was machen wir alle auf dem „Umland“ wenn Benzin richtig teuer wird und der Weg zum nächstgelegenen Supermarkt doch eben 10km beträgt.

    Und wie ist es mit der Diversität? Kann man als nicht weißer und nicht hetero deutscher ohne Kartoffelhintergrund und deutsch klingender Name überhaupt dort leben, ohne extrem isoliert zu sein?

    • 8G
      83492 (Profil gelöscht)
      @Doktor No:

      "Und wie ist es mit der Diversität? Kann man als nicht weißer und nicht hetero deutscher ohne Kartoffelhintergrund und deutsch klingender Name überhaupt dort leben, ohne extrem isoliert zu sein?"

      Ich denke, das geht auch auf dem Land.

      "Marcel Ivan Behrends: Die Diskriminierung ist auf dem Land nicht generell schlimmer. Dumme Sprüche hört man auch in Großstädten. Aber natürlich gibt es einige überwiegend katholische Dörfer, in denen die vierzig Einwohner jeden Schwulen am liebsten sofort verjagen würden."

      "

      Heute ist das größte Problem das fehlende Angebot: Manche Cafés und Kneipen in Dörfern sind zwar schwulenfreundlich, keiner lädt aber explizit Homosexuelle ein. Ein Grund, warum viele in Großstädte ziehen."

      taz.de/Schwuler-ue...dem-Land/!5030247/

    • @Doktor No:

      jedes dorf ist wie ein eigener kiez kleine städte haben sogar mehrere davon und jedes hat seine eigenen regeln was in dem einen funktionieren mag ist in dem anderen nebenan evtl nicht so ideal.... pauschalurteile wollen wir doch nicht oder ?