Folgen der Coronakrise: Lob der Provinz
Corona macht's möglich: Plötzlich ist die Provinz attraktiver als die Stadt und die Uncoolen sind systemrelevant.
U nd wo wohnst du? Die angesagte Antwort darauf lautet zum Beispiel, in Berlin, Kreuzberg, Neukölln oder Prenzlauer Berg. Niemand redet gern darüber, in Orten mit Namen wie Waidmannslust oder Königs Wusterhausen in der Peripherie zu leben. In Gegenden also, wo das Leben nicht gerade pulsiert und man sich gerne auf einen Filterkaffee beim Bäcker im Eingangsbereich von Kaufland trifft.
Großstadt und Freiheit – diese beiden Worte waren bisher untrennbar miteinander verbunden. Dann kam das Coronavirus. Es hat für die Umkehrung der Verhältnisse gesorgt. Die Bewohner:innen der coolen Stadtteile sind in der Enge ihrer Wohnungen gefangen, Cafés und Spielplätze bleiben geschlossen, die Grünanlagen, Supermärkte und öffentlichen Verkehrsmittel sind zu gefährlichen Orten mutiert.
Viele wünschen sich gerade nichts mehr, als den Corona-Frühling jenseits der Ballungsräume verbringen zu können. Die Provinz scheint plötzlich verlockend, denn was nützt es, dort zu wohnen, wo man jeden Film in der Orginalfassung sehen kann, wenn die Kinos geschlossen sind? Was hat man von der tollen Kinderbetreuung, den vielen Bildungsangeboten, wenn sie nicht stattfinden? Die Stadt hat ihre Freiheit, die unendlichen Möglichkeiten und ihre Coolness verloren. Kein Wunder, dass man sich hier besonders laut eine Rückkehr zur Vor-Corona-Normalität oder zumindest eine schnelle Lockerung der Einschränkungen wünscht.
Nicht weniger schockierend ist für viele Großstädter*innen die Erkenntnis, nicht zu den systemrelevanten Berufsgruppen zu gehören. Das Gemeinwesen funktioniert auch ohne die Werbeagentur, die Designerin, den Yogalehrer oder die Geschichtsprofessorin. Systemrelevant sind plötzlich die mit den uncoolen Jobs; Verkaufspersonal, Lkw-Fahrer, Pflegekräfte, Müllmänner. Menschen, die sich Wohnungen in begehrten Großstadtlagen oft gar nicht mehr leisten können.
Eine der Folgen der Pandemie muss und wird sein, dass sich die Wertigkeit dieser Berufsgruppen verändert, im Ansehen, aber besonders auch in finanzieller Hinsicht. Die Systemrelevanz sollte sich nicht nur in der Dankbarkeit der Allgemeinheit ausdrücken, sondern sich auch auf den Gehaltsabrechnungen niederschlagen. Das Virus hat schließlich nur sichtbar gemacht, was auch in normalen Zeiten Realität ist: Es klafft eine riesige Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft. In zentralen Berufsfeldern ist die Bezahlung so miserabel, dass man nur mit Mühe davon leben kann.
Auch die Provinz, die Vororte, Kleinstädte und Dörfer, erscheinen nun in anderem Licht – erheblich krisentauglicher, mit mehr Lebensqualität und weniger bedrohlicher Enge. Dort muss niemand lange Strecken zurücklegen, um ohne Sozialkontakte durch die knospende Natur zu radeln. Die Wohnungen sind größer, weil weniger knapp, und viel mehr Menschen mit durchaus durchschnittlichen Einkommen haben Balkone und Gärten, wo sich beim Umgraben des Blumenbeets oder auf der Gartenliege die Pandemie ohne Nervenzusammenbruch überstehen lässt. Die Supermärkte sind größer und selten richtig voll.
Die derzeit besonders gestressten Metropolen werden auch nach überstandener Krise nie wieder so cool sein wie vor dem Coronavirus. Unser Blick auf das, was wir als wichtig ansehen, hat sich verändert, wahrscheinlich für lange Zeit. Gerade wer Kinder hat, wird so schnell nicht vergessen, was es bedeutet, über Wochen gemeinsam in einer Stadtwohnung auszuharren und jeden Gang nach draußen mit mulmigem Gefühl anzutreten.
Die Umkehrung der Verhältnisse durch die Pandemie korrigiert eine Fehlentwicklung, die schon seit längerer Zeit besteht. Wir haben alles stets durch die Augen von Großstadtmenschen betrachtet – von der Verkehrswende bis zur Wohnungspolitik. Nun wird uns vorgeführt, dass in der Krise Ernten und Erntehelfer wichtig sind, Platz, Weite und noch viel mehr, was bisher nicht erwähnenswert schien. Ein Lob auf die Provinz.
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