Der Hausbesuch: Einer, der an das Leben glaubt
Nicht jeder hat die gleichen Chancen. Heinrich von der Haar wuchs in armen Verhältnissen auf und musste für seine Bildung kämpfen.
Wenn einer mal Missbrauch erlebt hat wie Heinrich von der Haar, dann bleibt die Verletzlichkeit. Und das Misstrauen. Vor allem, wenn der Täter sich hinter der Kirche versteckte.
Draußen: In Eichkamp, im Berliner Ortsteil Westend, ist es ruhig – nicht nur zu Coronazeiten. Schon die Namen der Wege klingen nach Idyll: Kiefernweg, Lärchenweg, Maikäferpfad. Hier reihen sich Einfamilienhäuser mit Gärten und großen Autos aneinander. In einem der Häuser lebt Heinrich von der Haar.
Garten: Das Interview findet im Garten statt: Das ist sicherer wegen des Virus. Im Garten verteilt schauen Gesichter aus grobem Stein ins Grüne. Es sind Figuren aus von der Haars erstem Roman „Mein Himmel brennt“. An einem Apfelbaum hängt seine Hängematte. Hier liegt er gerne, um Manuskripte zu überarbeiten. Daneben hängt ein Wechselhut. Der Hut ist sein Markenzeichen als Schriftsteller.
Drinnen: Eine Hausführung gibt es trotzdem. Bücherregale an allen Wänden des Arbeitszimmers, zusammen mit selbst gemalten Aquarellen im Flur stehen sie für ein neues, ein selbstbestimmtes Leben. An einer Tür ist ein Weihwassertöpfchen befestigt. „So was hatten wir in allen Zimmern hängen“, sagt von der Haar über seine Kindheit. Ein kleines Glöckchen steht auf einem Tisch im Wohnzimmer. Von der Haar klingelt. „Früher mein Heiligtum.“ Als Jugendlicher war er stolzer Messdiener, glaubte an Gott und die katholische Kirche. Doch das sollte sich bald ändern.
Kindheit: Geboren ist von der Haar 1948 im Münsterland – als eines von elf Geschwistern. Von zu Hause erinnert er „viel zu viel Arbeit und viel zu viel Prügel“. Auf dem Bauernhof, wo von der Haar aufwuchs, musste er anpacken, schon als Kind. Gleich morgens hieß es: Schweine füttern. Noch vor der Schule. Die Eltern waren arm. „Wir gingen anfangs mit Holzschuhen zur Schule, wenn’s kalt wurde, legten wir Stroh rein.“ Lederschuhe gab es erst zur Erstkommunion. Oft hat er sich mit den anderen verglichen, die ein Fahrrad hatten, Spielzeug. „Das Schlimmste war nicht die materielle Armut, sondern die Beschämung.“
Scham: Bis heute prägt ihn diese Scham. „Das Gefühl, der Fremde zu sein, kehrt manchmal wieder hoch“, sagt er nachdenklich. Er erklärt, dass die ehemalige Arbeitersiedlung, in der er heute lebt, immer wohlhabender wurde. Hier lebten „Ärzte, Rechtsanwälte“. „Was, du gehst nicht in die Oper?“, hieß es. Er lacht. Seine Errungenschaften scheinen gebrechlich. Er denke oft: „Du bist noch der stinkende Bauernjunge, der nur Platt kann.“
Bildung: Hochdeutsch war für ihn als Kind eine Fremdsprache. „Das verschloss mir den Mund“, sagt von der Haar. Dennoch gelang es ihm, auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen. Weil er vorgab, Priester werden zu wollen – „das war scharf gelogen“ –, konnte er am bischöflichen Kolleg in Münster das Abitur abschließen – nach Volksschule, Handelsschule, Banklehre.
Sozialkritik: Später machte er drei Diplome: in Soziologe, Ökonomie, Handelslehre. Promovierte zum Thema Jugendarbeitslosigkeit und soziale Sicherung. Er beschäftige sich mit sozialkritischen Themen. Auch zur Kinderarbeit veröffentlichte von der Haar eine Studie. „Das Bedürfnis, mich mit armen Teilen der Bevölkerung zu beschäftigen, lässt mich nicht los.“
Bauernhofsterben: Dem Vater missfielen sämtliche seiner Lebensentscheidungen. Er wetterte, dass er Bauer werden solle. Von der Haar gestikuliert wild mit seinen großen Händen, wenn er davon spricht. Sein Vater, sagt er, sei ein „ganz starker Gegner davon gewesen, überhaupt zur Schule zu gehen“. Lesen war verrufen. „Wer anfängt, Bücher zu lesen, war zum Arbeiten nicht zu gebrauchen“, so sein Credo.
Sünde: Die Familie war fromm. „Ora et labora“ lautete ihr Leitspruch. „Von morgens bis abends habe ich mich gefragt, wie oft ich gesündigt habe.“ Etwa wenn er den Geschwistern die Bonbons wegaß oder seine Sexualität entdeckte. „Mich davon zu befreien, fiel mir sehr, sehr schwer.“ Er habe als Kind nicht gelernt, selbstständig zu denken.
Missbrauch: Als ihm ein Leiter der christlichen Arbeiterjugend sexuelle Gewalt antat, änderte das für ihn alles. „Von der christlichen Arbeiterjugend war ich damals begeistert“, erzählt er. Weil sie liberal waren, auch Evangelische aufgenommen haben. Doch nach der Vergewaltigung war es mit der Kirche „unwiederkehrbar vorbei“.
Zerwürfnisse: Seine Erfahrungen verarbeitet von der Haar in „Mein Himmel brennt“. Autobiografisch schreibt er über die ärmlichen Verhältnisse und die Auswüchse des katholischen Glaubens. Bei seiner Familie erweckte das Zorn. Seit der Veröffentlichung sprechen mehrere Geschwister nicht mehr mit ihm. Andere hätten sich schon seit seinem Kirchenaustritt von ihm abgewendet.
Aufbruch: Seine Geschwister blieben im Münsterland – bis auf einen Bruder, der bereits mit elf Jahren nach Papua-Neuguinea ging, um Missionar zu werden. Von der Haar ging 1971 nach Westberlin. Im Münsterland sah er keine Zukunft. Von der Haar wollte ausbrechen aus der frommen, elterlichen Enge. In Berlin lernte er alternatives Leben kennen und freie Liebe, wurde Teil der Studentenbewegung. Besetzte das ehemalige Diakonissen-Krankenhaus Bethanien und spielte Straßentheater in Kreuzberg.
Ideologien: Ihm begegnete ein neuer Glaube – der an die Revolution. In der Kreuzberger WG, in der er als junger Mann lebte, habe ein Weihnachtsbaum mit rotem Stern gestanden. „Sodass man die Internationale drunter singen konnte“, sagt er. Es begegneten ihm der Kommunistische Studentenbund, die DKP. Aufgrund eines tiefsitzenden Misstrauens sei er jedoch nirgends Mitglied geworden. „Nur in der SPD unter Willy Brandt, das habe ich, als die Berufsverbote kamen, bitter bereut.“
Misstrauen: Das gewaltsame Erlebnis seiner Kindheit wurde innerhalb der Kirche vertuscht. Von der Haar hatte dadurch sein Vertrauen verloren. „Das Misstrauen ist unglaublich tief bei mir, ich glaube nichts mehr.“ Darum wollte er Soziologie und Ökonomie lernen. „Ich wollte Marx studieren, denn das war der kritischste Geist.“
Berufsschule: Später arbeitete er als Berufsschullehrer. Als „Sozi“ ging er „ans OSZ Handel“ – „weil ich benachteiligten Jugendlichen helfen wollte“. Für ihn als Lehrer war es dort nicht einfach. Als er von Schülern in der Berufsschule plötzlich bewusstlos geschlagen wurde, veränderte das sein Leben. Von der Haar war lange krank, fing an zurückzuschauen. „Durch diesen Schock kamen die alten Gewalterfahrungen sturzflugartig wieder hoch.“
Trilogie: Kurz darauf wurde er pensioniert. Es war die Zeit, in der er anfing, literarisch zu schreiben, die Vergangenheit aufzuarbeiten – mit Worten. „Ein guter Roman ist die beste Form der Rache, der Erkenntnis und der Versöhnung“, sagt er. Seine Frau ist Psychoanalytikerin. Sie habe ihn unterstützt. Nachdem „Mein Himmel brennt“ 2010 erschien, schrieb er „Der Idealist“ und „Kapuzenjunge“ – eine Trilogie, in der es um Vater-Sohn-Beziehungen geht. In dem letzten Buch beschäftigt er sich mit der Beziehung zu seinem Adoptivsohn.
Alleinerziehender Vater: Den hat von der Haar mit seiner ersten Frau aus einem Waisenheim aufgenommen. Doch „die Ehe überlebte mit dem Pflegekind nicht“. 1991 wurde er alleinerziehender Vater. Er arbeitete in Teilzeit – damals unüblich, gerade für Männer. „Das Misstrauen kam nicht nur von den anderen, auch von mir selbst. Ich dachte: Ich kann das gar nicht. Der Junge war extrem verhaltensauffällig.“ Seine Mutter hatte sich das Leben genommen.
Tango: Gerade schreibt von der Haar einen neuen Roman. Diesmal nicht autobiografisch. Das Eigene ist gewissermaßen auserzählt. Aber um Benachteiligung geht es wieder – „um Oskar, einen Rikscha-Fahrer mit sozial schwachem Hintergrund“ – und (wie er) Tangotänzer. Während Corona geht Tanzen nicht. Dafür bleibt zum Schreiben mehr Zeit. „Wenn die Impfung da ist und ich wieder raus kann, soll der Roman fertig sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben