Flüchtlingskrise im Libanon: Erfrieren oder ersticken
Der Kälteeinbruch hat die Not der syrischen Flüchtlinge im Ostlibanon drastisch verschärft. Vor allem kleinen Kindern droht Lebensgefahr.
BEKAA-EBENE taz | „Ich habe das Baby bei Schnee und Eis zur Welt gebracht, und bei Schnee und Eis ist es in der Kälte gestorben“, so fasst Fatma den ersten und letzten Lebenstag ihres Kindes zusammen. Dazwischen lagen gerade 20 Tage.
Fatma lebt in einem der improvisierten Lager für syrische Flüchtlinge, von denen es hier in der libanesischen Bekaa-Ebene Hunderte gibt. Viele der eineinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge, die in den Libanon gekommen sind, leben in der Bekaa-Ebene im Osten des Landes. Meist stammen sie aus ländlichen Gebieten Syriens und haben kein Geld, um sich die Mieten in den Küstenstädten leisten zu können. Also leben sie in provisorischen Lagern, die aus einem Dutzend bis zu ein paar hundert Verschlägen bestehen.
Über ein Gestell aus dünnen Holzstangen werden Plastikplanen gezogen, oft mit dem Aufdruck UNHCR, dem Logo des UN-Flüchtlingswerkes – schon ist die Unterkunft fertig. „Schau dir die Plane an, das ist alles zwischen uns und der Kälte“, sagt Fatma im Inneren des Verschlages, wo sie mit ihren vier anderen Kindern sitzt. Sie hatte Angst, den kleinen Abdel Salam zu wickeln, da es so kalt war, erzählt sie.
Dann habe er plötzlich dieses hohe Fieber bekommen. Sie ist mit ihm zu einem Arzt gegangen und der hat gesagt, der Kleine müsse sofort in ein Krankenhaus. „Aber dafür haben wir kein Geld, also sind wir in die Apotheke gegangen und haben ein paar Medikamente gekauft, und dann sind wir in unseren Verschlag zurückgekommen. Ich schwöre, die Medizin habe ich bis heute nicht weggeworfen“, sagt sie, und eine Träne läuft über ihre Wange.
Als Fatmas Mann nach Hause kam, war das Baby tot
Fatmas Mann hatte sich auf den Weg gemacht, eine Arbeit zu finden, damit das Paar die Krankenhausrechnung bezahlen kann. Aber im Winter gibt es kaum Arbeit für die Flüchtlinge in der Bekaa-Ebene, die, wenn sie Glück haben, eine temporäre Stelle als Landwirtschaftshelfer ergattern. Als Fatmas Mann nach Hause kam, war das Baby tot.
An diesem Tag scheint die Sonne, der Schnee vor dem Verschlag schmilzt. Aber die ersten beiden Januarwochen waren die Hölle. „Wir waren die halben Nächte draußen und haben Schnee von den Planen gefegt, damit sie nicht einbrechen“, erinnert sich Fatma. Tagsüber schickte sie die Kinder los, etwas Brennbares zu suchen, mit dem sie den Ofen anwerfen kann, der in der Mitte der Unterkunft steht. „Wir haben mit Müll und Plastik geheizt, obwohl ich wusste, dass das nicht gut für die Kinder ist. Aber was sollte ich machen, erfrieren oder fast ersticken?“
Von unten drang Feuchtigkeit ein, die Matratzen saugten sich voll. Auf dem festgetretenen Lehmboden liegt eine dünne Schicht Kiesel, auf billigen, dünnen Teppichen liegen die Matratzen. Von oben tropfte es ständig, also breitete die Familie Plastikplanen über ihren Decken aus. „Die Decken haben wir vor den Ofen gehängt, aber sie sind immer wieder klamm geworden.“ Die anderen Kinder fragen sie nun ständig, wo Abdel Salam geblieben sei. „Wenn ihr rausgeht, dürft ihr keinen Schnee essen, sonst geht es euch wie ihm“, lautet Fatmas hilflose Antwort.
Windige Konstruktion aus Holz und Plastik
Dann schiebt sie einen mit einer Decke bespannten Karton zur Seite, die in in ihrem Verschlag als Tür dient, und geht in ihre Küche, ebenfalls eine windige Konstruktion aus Holz und Plastik mit ein paar Töpfen in einem Regal. Fatma setzt sich auf den Boden und wirft ihren kleinen Spirituskocher an. Zeit, um ihr verlorenes Kind zu trauern, hat sie nicht. Sie muss die nächste Mahlzeit für die Überlebenden vorbereiten.
Draußen ist der meiste Schnee geschmolzen und der Schlamm knöcheltief. Bei den Nachbarn schiebt eine Frau den letzten Schnee zur Seite. Noch gibt es gerade genug für eine Schneeballschlacht. Es wirkt fast idyllisch, wie die Kinder hinter den Zelten und Verschlägen Deckung nehmen, um dann kreischend mit neuem Schnee in der Hand zum Angriff überzugehen. Aber der nächste Kälteeinbruch kommt bestimmt. Der libanesische Winter ist noch nicht vorüber.
Das weiß auch Yunes Saleh, ein libanesischer freiwilliger Helfer, der in der Bekaa lebt und der selbst bei den schwersten Winterstürmen unterwegs war, um Decken vorbeizubringen, ein paar Kinder in sein Auto zu setzen, um sie bei laufendem Motor und Heizung aufzuwärmen, oder Folien und Holz heranzuschaffen, um die Unterkünfte auszubessern.
Verschläge, Rohbauten, Garagen
Doch die schiere Zahl der Flüchtlinge und die Tatsache, dass sie überall verteilt sind, auf den Feldern in Verschlägen, in Rohbauten, Garagen und allem, was ein Dach über dem Kopf bietet, macht es schwer, effektive Hilfe zu leisten. Das Gewicht des Schnees hat manche Verschläge zum Einsturz gebracht, erzählt Yunes. Dann lief das Wasser von unten hinein. Aber das waren nicht die einzigen Probleme „Die Öfen in den Zelten sind zwar gut, weil sie wärmen. Damit wird auch Wasser zum Waschen und Kochen erhitzt. Aber es passiert, dass sich die Kinder mit dem heißen Wasser verbrühen.“
In diesem Lager mit gut fünfzig Zelten gab es zwei solcher Unfälle. Mehr als die Hälfte der über eine Millionen bei der UNO registrierten Flüchtlinge im Libanon lebt in improvisierten Behausungen. „Allein in der Bekaa-Ebene leben fast 200.000 Personen in den Verschlägen mit Plastikplanen“, sagt Dana Suleiman, die Sprecherin des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR. Die Hilfsorganisationen stoßen auf zwei große Probleme, wenn es darum geht, die Unterkünfte winterfest zu machen: Die Besitzer der Felder, auf denen die Flüchtlinge ihre Verschläge aufgestellt haben, wollen nicht, dass diese dort dauerhaft bleiben, und verbieten daher, sie haltbarer zu machen.
Der Libanon ist mit der großen Zahl der Flüchtlinge völlig überlastet. „Ein Flüchtling auf vier Einwohner ist weltweit derzeit die höchste Rate“, erklärt Suleiman. Ein weiteres großes Probleme ist, dass die Hilfsgelder nicht reichen. „Wir müssen mit dem Geld, das wir zur Verfügung haben, oft schmerzhafte Entscheidungen treffen, da wir nicht alles finanzieren können.“
„Sie war wie eine Schönheitskönigin“
Und es ist nicht nur der Winter, der hier tragische Geschichten schreibt. Ein paar Kilometer von der um ihr Baby trauernden Fatma entfernt, in einem anderen namenlosen Lager, lebt Saleh. Der 31-Jährige zeigt ein Passfoto seiner Frau, auf dem sie ein Kopftuch trägt: „Es war Liebe auf den ersten Blick, sie war wie eine Schönheitskönigin“, sagt er. In ihrer Heimat in einem Dorf in Nordsyrien haben sie geheiratet, bevor sie im Krieg ihr Haus verloren und im Libanon landeten.
„Mitten im Wintersturm begannen bei meiner Frau die Wehen und wir fuhren ins Krankenhaus“, sagt er. „Immer wenn meine Frau neues Leben geschenkt hat, hat es geschneit oder geregnet.“ Saleh lächelt bei dem Gedanken und streicht über die Köpfe seiner beiden größeren Kinder. Am Neujahrstag wurden die Drillinge geboren. Am gleichen Tag starb die Mutter. „Ich kann immer noch nicht begreifen, was geschehen ist. Meine Frau hat sich immer so viel Sorgen gemacht, dass den Kindern im Lager etwas passiert oder dass sie unter diesen Umständen krank werden“, sagt er. „Und jetzt ist sie nicht mehr da.“
Jede Nacht wollten die Kinder wissen, wo die Mutter geblieben ist. „Ist sie mit dem Schnee gegangen?“, fragte ihn kürzlich seine Tochter Nermin. Auch Saleh hatte zum Trauern wenig Zeit.
Hoffnung überlebt nicht in dieser Not
Die Drillinge brachte er aus dem Krankenhaus zurück in seinen Verschlag. Alle im Lager hätten mitgeholfen. Seine Mutter, die auch in seiner knapp 15 Quadratmeter großen Unterkunft wohnt, kümmert sich um die Drillinge. Sie würde sie niemals bei jemand anderem aufwachsen sehen. Selbst als ihre Tochter anbot, eines der Babys mit in ihren eigenen Verschlag zu nehmen, lehnte sie ab. Sie sollten zusammen aufwachsen, und sie würde das trotz ihres Alters schon schaffen, argumentierte die Oma der Drillinge.
Doch die Kälte im Verschlag erwies sich bald als lebensgefährlich für die drei Kleinen. Zwei Wochen nach der Geburt wurden sie wieder ins Krankenhaus gebracht. Krank und unterernährt lagen Riyadh und Ahmed in einem Brutkasten. Khalid, der dritte, lag mit nur eineinhalb Kilo in einem anderen – in Lebensgefahr. Näheres wollte der Arzt nicht sagen.
„Meine Frau hieß Amal“, sagt Saleh – zu Deutsch „Hoffnung“: „Aber ich habe keine Hoffnung mehr, dass wir jemals wieder nach Syrien zurückkehren. Und mit meiner Frau ist auch die Hoffnung gestorben, dass es hier besser wird. Jetzt will ich nur noch, dass die Drillinge durchkommen“. Zwei Tage später meldet sich der libanesische Freund, der das Gespräch mit Salehs Familie vermittelt hatte. Der kleine Khaled ist im Krankenhaus gestorben. Auch der Zustand seiner Brüder hat sich verschlechtert. Umgeben von Kälte und Plastikplanen ist es schwer, die Hoffnung am Leben zu erhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe