Flüchtlingshelfer über Abschiebungen: „Sie gelten als Verräter“
1.104 Menschen wurden seit 2016 nach Afghanistan abgeschoben. Sie werden als Feinde des Landes angesehen, warnt Flüchtlingshelfer Stephan Reichel.
taz: Herr Reichel, wer sind die Menschen, die bis zuletzt noch aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben wurden?
Stephan Reichel: Vom letzten Flug Anfang Juli von Hannover aus kenne ich einige. Etwa einen jungen Mann aus Regensburg, der kurz vor seiner Hochzeit mit einer deutschen Frau noch schnell abgeschoben worden ist. Einen anderen Mann konnte ich in letzter Sekunde aus dem Flug holen, wahrscheinlich weil der bayerische Ministerpräsident Markus Söder in diesem Fall interveniert hatte. Ansonsten gibt es viele Menschen, die hätten abgeschoben werden sollen, die wir aber durch juristische und andere Maßnahmen schützen konnten. Es war auch noch ein Flug Anfang August von München aus geplant, der aber gescheitert ist.
Wie beurteilen Sie die Abschiebungen angesichts der Lage im Land?
Als die Abschiebungen Ende 2016 wieder aufgenommen worden waren, erfolgte dies schon gegen alle Einschätzungen zur Sicherheitslage in Afghanistan. Die Taliban waren da bereits erstarkt und auf dem Vormarsch. Und als absehbar war, dass sie auch auf die Hauptstadt Kabul vorrücken, hielt die Bundesregierung weiterhin an Abschiebungen fest. Die Menschen bangen dort nun um ihr Leben.
Wie viele Abschiebungen gab es?
Seit dem 14. Dezember 2016 fanden 40 Flüge mit 1.104 Menschen an Bord statt. Jeder Flug kostete übrigens zwischen 300.000 und 330.000 Euro.
Wer wurde in den letzten Jahren zurück nach Afghanistan gebracht?
Darunter waren viele Menschen, die hier eine Ausbildung hätten anfangen können, gut Deutsch sprachen und sehr gut integriert waren. Handwerksmeister, Unternehmer oder Pflegeheimleiter werden dies bestätigen. Doch die Politik hatte es vor allem auf Afghanen abgesehen, auch weil man Syrer tatsächlich nicht abschieben konnte.
Bundesinnenminister Horst Seehofer und sein bayerischer Amtskollege Joachim Herrmann betonten immer wieder, dass es sich hauptsächlich um Kriminelle gehandelt habe.
Einige hatten Bagatelldelikte begangen wie Fahren ohne Führerschein, Schwarzfahren oder ausländerrechtliche Dinge – etwa dass sie in ein anderes Land gereist waren. Schwere Kriminelle oder gefährliche Straftäter, die direkt aus der Haft abgeschoben wurden, gab es nur sehr wenige. Die große Mehrheit war unbescholten.
Wurden durch Abschiebungen Familien zerrissen?
Es gab viele Abschiebungen von Jungen, die als Minderjährige mit der Familie nach Deutschland gekommen waren. Die Eltern bekamen einen Aufenthaltsstatus, die Kinder aber verlieren ihn, sobald sie volljährig sind. Denn sie erhalten dann ein eigenes Asylverfahren – oft mit dem Ergebnis, dass sie als nicht schutzbedürftig gelten. Da ereignen sich große Dramen. Häufig waren diese Leute noch nie in Afghanistan, etwa weil sie im Iran geboren sind und dann nach Deutschland kamen.
Wie musste man sich die Abschiebung nach Kabul konkret vorstellen?
Häufig kamen die Menschen zuvor in Abschiebehaft und hofften bis zuletzt. Auf dem Weg zum Flugplatz und im Flugzeug waren sie die ganze Zeit an Händen und Füßen gefesselt. In Kabul wurden sie von den afghanischen Behörden erst einmal anständig empfangen, erhielten 100 Dollar Begrüßungsgeld, wurden dann aber auf die Straße gesetzt und in die Lebensgefahr entlassen. Meistens gibt es keine Familie dort. Viele Abgeschobene sind obdachlos, sie schlagen sich irgendwie durch. Einige sind dann einfach verschwunden.
Haben sich die Bundesländer unterschiedlich verhalten?
Ja, einige halten sich ganz raus wie etwa Bremen, das keine Afghanen abgeschoben hat. Deutlich am aktivsten waren Bayern und Sachsen.
Was erwartet die Abgeschobenen nun von den Taliban?
Sie gelten als verdorben von der westlichen Kultur. Und als Verräter, weil sie ja ihr Land verlassen hatten. Abgeschobene werden von den Taliban als Feinde Afghanistans angesehen.
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