Flucht nach Europa: Seehofers langer Schatten über Europa
In der EU ankommende Asylsuchende sollen in Lagern landen und als „nicht eingereist“ gelten. Europas rechte Flüchtlingspolitik wird zum Mainstream.
Der Kerngedanke: Wer die Außengrenzen erreicht, kommt dort zunächst in Lager, um per Vorprüfung zu klären, ob überhaupt Zugang zu einem regulären Asylverfahren gewährt wird. Bis dahin gelten die Ankommenden als offiziell „nicht eingereist“. Nur wer aus Ländern mit einem EU-weiten Anteil an positiven Asylentscheidungen von über 20 Prozent stammt und nicht über einen „sicheren Drittstaat“ einreist, darf für das reguläre Asylverfahren in die EU. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) warnt vor „De-facto-Haftlagern an den Grenzen Europas“.
Die Pläne dafür reichen lange zurück – und stammen aus Berlin. Am 13. November 2019 legt das damals von Seehofer geleitete Bundesinnenministerium den anderen EU-Staaten ein Papier vor. Es trägt den neutralen Titel „Food for thought“, „Denkanstoß“, und soll die deutsche EU-Ratspräsidentschaft vorbereiten. Die beginnt am 1. Januar 2020. Seehofer will darin endlich zu Ende bringen, woran alle vorigen Präsidentschaften gescheitert waren: das dysfunktionale Asylsystem auf neue Füße zu stellen.
Seine Idee: „Offensichtlich unbegründete oder unzulässige Anträge müssen an den Außengrenzen sofort zurückgewiesen werden, und dem Antragsteller darf die Einreise in die EU nicht gestattet werden“, steht in dem Papier. „Wir sollten insbesondere prüfen, ob Personen aus sicheren Drittstaaten die Einreise verweigert werden sollte.“ Mit „sicheren Drittstaaten“ sind Transitstaaten wie die Türkei, Tunesien oder Marokko gemeint. Auf sie soll die Verantwortung abgewälzt werden.
Anfang März 2022: Kurz nach Russlands Überfall auf die Ukraine vertreiben die belarussischen Behörden Hunderte von Migrant*innen aus einem behelfsmäßigen Lager im Grenzdorf Bruzgi. Die Menschen versuchen, die Grenze nach Polen zu überqueren und stranden völlig entkräftet im Wald. Wer ihnen hilft, kommt ins Gefängnis: 13 Aktivist*innen, die zum Teil lebensrettende Hilfe am Grenzstreifen leisten, werden von der polnischen Polizei verhaftet. Ihnen wird „Beihilfe zur illegalen Migration“ vorgeworfen, es drohen acht Jahre Haft.
Der Fall ist eines von 89 Beispielen aus einer von den Grünen im EU-Parlament in Auftrag gegebenen Studie der NGO Picum. Sie zeigt: Wer Flüchtenden hilft, muss in der EU immer öfter mit Strafverfolgung rechnen. Die 89 betroffenen Helfer*innen wurden in EU-Staaten zwischen Januar 2021 und März 2022 kriminalisiert. In den allermeisten Fällen ging es darum, dass sie Flüchtenden Nahrung, Unterkunft, medizinische Hilfe oder Transportmittel zur Verfügung stellten, bei ihren Asylanträgen halfen – oder aus Seenot retteten. Die Folge: Ermittlungen oder Anklagen wegen Beihilfe zur Einreise, Durchreise oder zum Aufenthalt oder der Schleusung von Migranten*innen.
Nicht immer kommt es zu Verurteilungen, viele der Fälle sind weiter anhängig – aber längst nicht alle hat Picum überhaupt erfassen können. Es zeigt sich ein klarer Trend: Europas Abschottung soll flankiert werden durch Einschüchterung jener, die Solidarität üben. „Das soll abschrecken und dafür sorgen, dass die Flucht nach Europa lebensgefährlich und menschenunwürdig bleibt,“ sagt der Grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt. Er fordert einen besseren Schutz von Helfer*innen. (cja)
Doch die deutsche Ratspräsidentschaft endete im Juni 2020 – ohne Einigung in Sachen Asyl. Zu konträr blieben die Vorstellungen. Ein Knackpunkt: Länder wie Griechenland und Italien drängen seit Langem auf einen Verteilmechanismus. Staaten wie Deutschland und Frankreich sind im Prinzip einverstanden, andere, wie Ungarn oder Polen, strikt dagegen. Doch so konnte es auf die Dauer nicht weitergehen. Auch die damals neue EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen stand in Sachen Asyl unter Zugzwang. Und so präsentierte die Kommission im September 2020 den Entwurf für einen Migrations- und Asylpakt, der im Wesentlichen Seehofers „Denkanstöße“ übernommen hat.
Seither aber geschah: lange nichts. Voran ging es nur bei der „Blauen Karte“ – einem Visa-Programm für qualifizierte Fachkräfte – und der aus einer bereits existierenden Behörde hervorgegangenen Neugründung der EU-Asylagentur EUAA im Januar 2022. Doch vor allem bei der Verteilung Ankommender und der Zuständigkeit für diese beharrten fast alle Staaten weitgehend auf ihrer Position.
Sieben konkrete Gesetzesvorhaben im Asyl- und Migrationsbereich hat die Kommission seit der Präsentation des Pakts vorgelegt. Zwei davon nahmen nun am 22. Juni die erste Hürde im Rat. Der billigte unter anderem die sogenannte Screening-Verordnung. Die schafft die Grundlage für das, was Seehofer vorgedacht hatte: ein verbindliches Registrierungsverfahren an den Außengrenzen, inklusive „Prüfung der Schutzbedürftigkeit“ – in nur fünf Tagen.
Die jüngsten Beschlüsse seien ein „signifikanter Fortschritt“, vor allem bei der Herausforderung, „Solidarität und Verantwortung auszubalancieren“, sagt eine Sprecherin des zuständigen EU-Kommissars Margaritis Schinas auf Anfrage der taz. Für den vor allem von den Mittelmeerstaaten verlangten Mechanismus zur EU-weiten Verteilung Ankommender gab es indes keinen Konsens. Stattdessen gibt es nun eine sogenannte „Solidaritätsplattform“, die sich bereits am 27. Juni konstituierte. Mit der können Mitgliedstaaten Ländern an den Außengrenzen freiwillig Flüchtlinge abnehmen oder ihnen Geld dafür schicken. Das war selbstredend schon bisher möglich. Eine verbindliche Regelung gibt es nicht. Brüssel gibt sich dennoch optimistisch: Die Ukrainekrise habe gezeigt, was möglich sei, sagt Schinas’ Sprecherin. „Wenn wir diese Ergebnisse in Krisenzeiten erzielen können, können wir uns auch für die Bewältigung der Migration in normalen Zeiten rüsten.“ Fortschritte beim Pakt seien „so dringend wie nie zuvor“.
Die weiteren, separaten Gesetzesvorhaben der Kommission sehen vor: Wer aus als sicher geltenden Ländern stammt oder über diese eingereist ist, bleibt nach dem Screening für ein Asyl-Schnellverfahren direkt im Lager. Im Fall einer – dann sehr wahrscheinlichen Ablehnung – soll innerhalb von zwei Wochen die Abschiebung erfolgen.
Vieles von dem ist in der Ägäis bereits Realität. Die EU hat auf den Inseln Samos, Kos und Leros sogenannte „Multi-Purpose Reception and Identification Centres“ errichtet. Weitere sollen folgen und die 2015 geschaffenen „Hotspots“ ersetzen. Vom Screening bis zur Abschiebung ist hier alles an einem Ort. Solche Lager dürften bald an vielen Orten der Außengrenzen entstehen.
Der Jurist Robert Nestler hat die NGO Equal Rights Beyond Borders gegründet. Sie bietet seit Jahren Rechtsberatung auf den Ägäis-Inseln an. Vieles, was die Screening-Verordnung und die weiteren Gesetze des Asylpakts vorsehen, werde in Griechenland auf Grundlage nationalen Rechts schon jetzt angewandt, sagt Nestler. „Aber das Ganze in eine europäische Gesetzesform zu gießen, ist ein wichtiges politisches Zeichen. Man kann es dann an allen Außengrenzen so machen.“
Beschleunigtes Asylverfahren
Den juristischen Kniff der „Fiktion der Nichteinreise“ für alle Ankommenden sieht er kritisch: „Das wird immer mit Haft verbunden sein. Die Menschen dürfen den Ort der Unterbringung nicht verlassen.“ Das beschleunigte Asylverfahren soll die Rechtswege auf eine Instanz beschränken. „Fast immer fehlen rechtliche Instrumente, sich zur Wehr zu setzen“, sagt Nestler dazu. Die Verantwortung würden Brüssel und die nationalen Regierungen so gegenseitig aufeinander abwälzen können: „Die EU sagt ‚Wir machen nur Richtlinien‘, die Mitgliedsstaaten sagen ‚Wir setzen nur um‘. Alle können so sagen: ‚Wir haben damit nichts zu tun.‘“ Schon heute sei in Griechenland zu beobachten, dass die EU-Asylagentur EUAA die Asylverfahren in den Lagern weitgehend dominiert: Sie führt die Anhörungen der Schutzsuchenden durch und formuliert eine Empfehlung für eine Entscheidung. Die eigentlich zuständige griechische Asylbehörde entscheidet meist nur noch auf dieser Grundlage – ohne die Schutzsuchenden selbst zu sehen. „Die EUAA geht damit über ihr Mandat hinaus“, klagt Nestler.
Deutschland hat der Screening-Verordnung und damit dem ersten großen Baustein des neuen EU-Asylpakets zugestimmt. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger bringt das auf: „Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, das ‚Leid an den Außengrenzen‘ und ‚illegale Zurückweisungen‘ zu beenden“, sagt Bünger. Die Zustimmung zum Entwurf der Screening-Verordnung sei „jedoch genau das Gegenteil“. Die Ampel „bricht so ihre Pflichten aus dem Koalitionsvertrag“.
Vor dem Hintergrund des grausamen Massakers in der spanischen Enklave Melilla Ende Juni mit mindestens 37 Toten hat Bünger einen Antrag gestellt, um Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen effektiv zu bekämpfen – so, wie die Ampel es im Koalitionsvertrag versprochen hatte. „Die desaströsen Pläne der Screening-Verordnung kann nach der Zustimmung der Bundesregierung allerdings nur noch das Europäische Parlament stoppen“, sagt Bünger.
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