Film über Sprache als Selbstermächtigung: Am Anfang steht das Wort
Der Film „Die Aussprache“ von Sarah Polley spielt unter Frauen einer strenggläubigen Kolonie. Sie müssen reden über erfahrene männliche Gewalt.
Frauen reden, Männer handeln“, heißt es bisweilen, wenn Kritik an vermeintlicher femininer Zögerlichkeit gegenüber angeblich maskulinem Tatendrang zum Ausdruck gebracht werden soll. Abzuwägen, anstatt direkt entschlossen anzupacken, wird so nicht nur als etwas typisch Weibliches, sondern auch als etwas Verwerfliches, gar als Schwäche dargestellt.
Vor diesem Hintergrund ist „Die Aussprache“ nicht nur ein Filmtitel, der selten unprätentiös die Ereignisse auf den Punkt bringt, die während der zweistündigen Handlung zu erwarten sind: eine tiefschürfende Debatte einer Gruppe Frauen jeden Alters nämlich, die nach der besten Möglichkeit sucht, der Unterdrückung durch die Männer einer entlegenen kanadischen Kolonie zu entkommen.
In der Wahl des Titels schwingt obendrein, vor allem in der Originalversion („Women Talking“), eine bestechende Kühnheit mit. Eine, die keine Sorge darum erkennen lässt, dass die anklingende, gerne verspottete „Redseligkeit der Frauen“ ein potenzielles Publikum abschrecken könnte. Die kanadische Filmemacherin Sarah Polley („Alias Grace“) zeigt diese Kühnheit auch in der Inszenierung ihres kammerspielartigen Dramas, das sich als hingebungsvolle Lobrede auf den unermesslichen Wert des Worts, sein emanzipatorisches Potenzial, lesen lässt.
„Die Aussprache“ widersetzt sich dabei konsequent der trügerischen Rangordnung zwischen „Sprechen“ und „Handeln“ und insistiert: Sprechen ist Handeln. Ganz offensichtlich zu Recht. Wir gestehen Liebe mit Worten und sprechen Trennungen aus. Wir handeln mitunter nicht, wenn wir schweigen. Oder tun es eben doch, indem wir Dinge zur Sprache bringen. Was wäre etwa das Publikmachen von systematischer sexueller Belästigung, wie wir es im Rahmen von #MeToo erleben, anderes als eine Form des Handelns?
Dem Erzählen vertrauen
Der Begeisterung für das Wort bleibt „Die Aussprache“ auch im Aufbau treu. Dass der Film auf einer Buchvorlage, dem gleichnamigem Roman von Miriam Toews, basiert ist durchweg erkennbar. Die vielgebrauchte „Show, don’t tell“-Mahnung wird hier zu einem überzeugenden „Showing by telling“, indem Sarah Polley einen immensen Reichtum an Ideen offenbart, gerade indem sie nahezu allein das Erzählen zeigt.
Wenngleich der Stoff so durchaus auch als Theaterstück funktionieren würde, profitiert die Adaption enorm von der Gravitas, die ihr durch die filmische Inszenierung verliehen wird. Eine entsättigte Farbpalette verstärkt das Gefühl von zeitloser Bedeutung des Thematisierten, insbesondere der Einsatz fahler Blautöne schafft eine überaus ansprechende, eigene Ästhetik.
Und doch ist es die Sprache selbst, die zum Ereignis wird. Nur die wenigen Hintergrundinformationen vermittelt der Film beinahe tonlos: Aus der Vogelperspektive ist eine junge Frau zu sehen, die mit Blut zwischen ihren Beinen aus dem Schlaf erwacht. Es folgen weitere Szenen, die verdeutlichen, dass sie weder die Einzige ist, die sich am Morgen nicht an die Gewalt erinnern kann, die ihr des Nachts angetan wurde, noch dass sich die Vorfälle zum ersten Mal ereignen.
Im Zusammenspiel mit einer zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Stimme aus dem Off wird klar, dass die Männer der streng religiösen Gemeinde die dort lebenden Frauen wiederholt mit einem Betäubungsmittel für Kühe außer Gefecht setzten, um sie zu vergewaltigen. Ihre Berichte wurden zunächst wahlweise als schlichte Ausgeburten einer lebhaften weiblichen Fantasie oder als Teufelsheimsuchungen, als Strafe Gottes, abgetan.
Befreiung oder Flucht?
Als es schließlich doch zu vorübergehenden Verhaftungen kommt, müssen sich die Frauen darüber einig werden, wie sie auf die drohende Rückkehr der Männer reagieren wollen. Nichts tun, bleiben und kämpfen, oder gehen? Unter welchen Bedingungen ist ein Bleiben möglich, und wie könnten sie diese durchsetzen? Käme ein Fortgehen einer Selbstbefreiung gleich, oder wäre es doch nur eine feige Flucht?
Die Rahmenhandlung ist inspiriert von erschreckenden Ereignissen, die sich zur Mitte der 2000er Jahre in der Manitoba-Kolonie, einer ultrakonservativen mennonitischen Gemeinde in Bolivien, zutrugen. In ihrer ablehnenden Haltung gegenüber modernen Errungenschaften mit den Amischen vergleichbar, schottet sie sich von „Ungläubigen“ ab. Frauen werden dort auf die Rolle der Ehefrau und Mutter reduziert, sind den Männern untergeordnet. Etwa 130 Opfer im Alter zwischen 3 und 65 Jahren wurden über Jahre hinweg missbraucht, ehe 2011 die Polizei eingeschaltet wurde.
Sarah Polley, die mit Miriam Toews auch das Drehbuch erarbeitete, nutzt das fiktionalisierte Setting allerdings weniger, um diesen konkreten Extremfall filmisch aufzuarbeiten, als dass es ihr als metaphorischer Schauplatz dient, auf dem allgemeine Fragen um die Stellung der Frau im Patriarchat potenziert werden.
„Die Aussprache“. Regie: Sarah Polley. Mit Rooney Mara, Claire Foy, Frances McDormand u. a. USA 2022, 104 Min.
Die oft widerstrebenden Positionen der verschiedenen Figuren, die auf dem Heuboden einer dunklen Scheune zusammenkommen, um über die richtige Reaktion auf ihre Lage zu beraten, erinnern teils verblüffend an die verschiedenen Haltungen von Frauen innerhalb heutiger Diskussionen, etwa in besagter #MeToo-Debatte.
Die verbitterte Janz (Frances McDormand) zum Beispiel, deren Gesicht von einer vielsagenden Narbe durchzogen ist, scheint unter dem Eindruck der selbst durchlebten Widrigkeiten weder an einen Wandel zu glauben, noch ist sie, angetrieben durch ihren strengen Glauben an die Richtigkeit des Status quo, offen für Veränderungen. Sie zieht sich jäh zurück, während die acht verbleibenden Frauen über die Optionen, die ihnen bleiben, debattieren.
Rachegedanken oder der Wunsch nach Gerechtikgeit
Aus der Wut über das erfahrene Leid setzt sich Salome (Claire Foy) wiederum dezidiert dafür ein zu bleiben und die Männer zu bekämpfen. In dem Willen, Rache zu nehmen, spielen Erwägungen darüber, in welchem Ausmaß diese gerechtfertigt oder auch nur erfolgversprechend sein könnten, eine untergeordnete Rolle. Mariche (Jessie Buckley) ist ähnlich erzürnt über die Gewalt, spricht sich aber für eine pragmatischere Lösung aus. Weil sie keinen Ausweg aus den Umständen sieht, plädiert sie dafür, sich mit den Männern zu arrangieren.
Die schwangere Ona (Rooney Mara) hingegen scheint sich vor allem gerechte Verhältnisse zu wünschen. Sie ist es, die die Positionen der anderen Frauen am konsequentesten infrage stellt und so Reflexionen darüber anstößt, inwieweit Unterdrückung durch etablierte Strukturen begünstigt wird und wann von individueller Verantwortung gesprochen werden muss. Darüber, inwieweit Schweigen und Erdulden von Gewalt gerechtfertigte Überlebenstaktik sind und wann man von einer Mitschuld daran sprechen muss, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind.
Wenngleich der Film in Momenten, in denen sich die Diskussion im Kreise bewegt, durchaus Längen hat, findet „Die Aussprache“ dank des herausragenden Ensembles, zu dem auch Judith Ivey und Sheila McCarthy gehören, immer wieder zu seiner Intensität zurück.
Auch das macht den Film zu einer Ausnahmeerscheinung: Selten sind derart viele der spannendsten Schauspielerinnen unserer Zeit in einem Projekt versammelt – und weitgehend unter sich. Neben dem jungen trans* Mann Melvin (August Winter) ist Dorflehrer August (Ben Whishaw) die einzige männliche Rolle, der ein etwas größerer Raum zugestanden wird. Die Täter werden, ebenso wie unmittelbare Gewaltdarstellungen, beinahe vollständig ausgeblendet.
Weibliche Selbstermächtigung
Auch Entscheidungen wie diese machen Sarah Polleys vierten Langfilm zu einer durchdachten, in ihrer Argumentation ungewöhnlich tiefgründigen Abhandlung über weibliche Selbstermächtigung. Eine, die bei aller Schwermut, die sich auch in den eindringlichen, meist gespenstisch-bedrohlichen Kompositionen von Hildur Guðnadóttir („Tár“) widerspiegelt, niemals ohne Hoffnung ist.
Letztlich verheißt „Die Aussprache“, dass Veränderung durchaus möglich ist. Und zwar dann, wenn Frauen – anders als in der bis heute existierenden Manitoba-Kolonie, wo sich nach den Verurteilungen ein Mantel des Schweigens um die Vorfälle legte – immer weitersprechen.
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