Feministisches Manifest aus Chile: In der Wut vereint
Die Performance des feministischen Kollektivs LASTESIS ging 2019 viral um die Welt. Nun erscheint ihr Manifest „Verbrennt eure Angst!“
Am 20. November 2019 luden Sibila Sotomayor, Daffne Valdés, Paula Cometa und Lea Cáceres, das Künstlerinnenkollektiv LASTESIS, Mitstreiterinnen zu einer gemeinsamen Performance auf die Plaza Aníbal Pinto in Valparaiso ein. Die dort Versammelten skandierten lautstark „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“, einen Auszug aus einem unvollendeten Theaterstück: „Y la culpa no era mía ni dónde estaba ni cómo vestía“ (Und es war nicht meine Schuld, nicht wo ich war, nicht was ich trug).
Wenige Tage später inszenierten abermals Tausende die wütende Anklage mit verbundenen Augen auf den Straßen der chilenischen Hauptstadt Santiago. Rasant verbreiteten sich die Aufzeichnungen über die sozialen Netzwerke und machten die feministische Aktion zu einer internationalen Meldung in den Nachrichten. Das vereinte die Forderungen der Frauen unüberhörbar mit der chilenischen Revolte. Die sozialen Proteste hatten sich im Oktober 2019 zunächst an der Erhöhung der U-Bahn-Preise entzündet.
Trotz vielfältiger Repressionen und den Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie mündeten sie ein Jahr später erfolgreich in einem Referendum zur Verfassungsänderung.
LASTESIS: „Verbrennt eure Angst! Ein feministisches Manifest“. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021. 160 Seiten, gebunden, 12 Euro. Erscheint am 8.März 2021
Doch auch in anderen Ländern und Städten wie Mexiko, Lima, Paris, Madrid oder Buenos Aires übernahmen Frauen die Choreografie von „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“, um gegen sexuelle Gewalt und Femizid zu protestieren. Das internationale Medienecho traf die Initiatorinnen unvorbereitet – beförderte andererseits aber auch Abwehr und allerhand Verschwörungstheorien im Land.
Geteilte Erfahrung
Obwohl die Künstlerinnen die vielfache Übernahme ihrer Aktion begrüßen, wollen sie in dem Zusammenhang von „Erfolg“ nicht sprechen. Zeigt doch die große Resonanz deutlich, wie sehr die Erfahrung patriarchaler Gewalt von Frauen geteilt wird – nicht nur in Lateinamerika.
Für LASTESIS (Dt.: die Thesen) geht es um die Verbreitung feministischer Theorien und deren Übersetzung in Formen der Kunst und des Aktivismus. Für ihre Forderungen benutzen sie die Straße und den öffentlichen Raum als wichtigste Bühne. Darüber hinaus hat das Kollektiv nun ein 160-seitiges Manifest verfasst, das am 8. März zum Weltfrauentag erscheinen wird.
In „Verbrennt eure Angst“ verknüpfen Sotomayor, Valdés, Cometa und Cáceres ihre Alltagserfahrungen mit denen anderer Frauen und Personen, die sich nicht binär definieren oder sich als Mitglied der LGBTQIA+ Community begreifen. Sie erlebten psychische, sexualisierte oder ökonomische Gewalt, auf der Straße, bei der Arbeit, in der Familie oder in ihrer Beziehung. Sie kennen überhebliche Belehrung und demütigende Bevormundung. Als Jugendliche wurde ihnen die Rocklänge der Schuluniform abgemessen.
Mit einem programmatischen WIR reflektieren die Autorinnen die eigene Sozialisation und die gesellschaftlichen Bevorzugung von Männern. Und sie erinnern an die Ermordungen von Lucía Pérez in Argentinien, Jessica Tejeda in Peru oder Nicole Saavedra in Chile. Wie zahlreiche andere Femizide in Lateinamerika blieben diese Verbrechen ungestraft oder wurden von der Justiz nur schleppend verfolgt.
Plötzliches Aufbegehren
„Chile wacht auf“ – Ende 2019 brachte die Losung auch Erstaunen über das plötzliche Aufbegehren gegen soziale Ungerechtigkeit im Land zum Ausdruck. Zu perfekt erschien das neoliberale Modell etabliert, um eine Veränderung des politischen Systems noch für möglich zu halten.
„Patriarchat und Kapital – dieses Bündnis ist fatal“. So hatte LASTESIS, inspiriert von der feministischen Theoretikerin Silvia Frederici, ein frühes Theaterstück benannt. In einem Lied darin hieß es: „Der Klassenkampf ist nicht zu verstehen, solange wir nicht sehen, dass die Arbeiterklasse aus zwei Klassen besteht: die Männer privilegiert, die Frauen dominiert.“
Dieser Aspekt wird auch in der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Chile von einigen aus der Linken immer noch gerne ignoriert und der Feminismus als ein zweitrangiges, weniger dringliches Anliegen angesehen, so die Erfahrungen der Künstlerinnen. Auf die männliche Borniertheit reagieren sie genervt. „Sie haben noch nicht begriffen, dass wir uns nicht noch einmal am Katzentisch abspeisen lassen, dass wir Teil der Diskussion sind (…)“
Für ihre subversive Praxis dissidenter Körper gibt es historische Vorbilder. So erinnert LASTESIS auch an den 2015 verstorbenen Schriftsteller und Performance-Künstler Pedro Lemebel. Als homosexueller Künstler und Aktivist richtete er den Blick auf das marginale Chile und provozierte mit seinen divenhaften Auftritten nicht nur das reaktionäre Lager, sondern auch seine kommunistischen Parteigenossen.
Repressive Gewalt
In den zurückliegenden Monaten ging die chilenische Polizei oft mit roher Gewalt gegen die Demonstrant*innen vor. Mindestens 23 Menschen starben, über 2300 wurden verletzt, davon fast die Hälfte durch Gummigeschosse. Viele von ihnen wurden an den Augen getroffen. Manche erblindeten für immer.
Unter diesem Eindruck veröffentlichte das Kollektiv im Mai 2020 ein Video, in dem sie in roten Latzhosen vor der Polizeiwache in Valparaiso stehen. „Und die Bullen verfolgen uns, blockieren die Ausgänge unserer Häuser, provozieren, mischen sich unter die Protestierenden und setzen alles in Brand …foltern, vergewaltigen, zerstören, machen uns blind.“ Aus dem Off sprechen sie ihren zornigen Text.
Dass Performances und aktivistische Interventionen in der aktuellen Auseinandersetzung nicht in einem geschützten Raum stattfinden und dadurch auch drastische institutionelle Reaktionen hervorrufen, erfuhren LASTESIS in diesem Fall postwendend. Die Carabineros erstatteten Anzeige gegen sie wegen „Beleidigung der Ordnungsmacht“ sowie „Aufruf zur Gewalt“.
In wenigen Wochen, am 11. April, werden in Chile die 155 Delegierten gewählt, die gemeinsam den Entwurf zu einer neuen Verfassung ausarbeiten sollen. Dann wird das Gremium zur Hälfte von Frauen besetzt sein.
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