Feministischer Western „First Cow“: Männer, die über Rezepte sprechen
Kelly Reichardts Neo-Western „First Cow“ erzählt mit leichter Hand von Frühkapitalismus und toxischer Männlichkeit. Ohne weibliche Hauptrollen.
Wesen in Not: Auf einem grün überwucherten Waldboden liegt ein Salamander auf dem Rücken. Hilflos zappelt er mit den Beinchen. Doch eine Menschenhand greift ins Bild und dreht den Lurch vorsichtig um, sodass er in seinem schaukelnden Amphibiengang davonhuschen kann. Wesen gerettet.
„First Cow“ ist ein Film über das Wesentliche. Darüber, was Menschen, genauer gesagt, was Männer erleben können, wenn sie sich gegen die Gewalt entscheiden, wenn sie das „Wesentliche“ in sämtlichen Begegnungen wahrnehmen. Kelly Reichardts siebter Langspielfilm erzählt eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, als Siedler:innen versuchten, den nördlichen Teil des Doppelkontinents Amerika sich untertan zu machen.
„First Cow“. Regie: Kelly Reichardt. Mit John Magaro, Orion Lee u. a. USA 2019, 121 Minuten. Läuft ab 9. 7. auf Mubi
Der Koch Otis (John Magaro), der „Cookie“ genannt wird, treibt sich um 1820 mit einer Reisegruppe aggressiver Trapper-Haudegen im größtenteils unerschlossenen Oregon Country herum. Er ist der sanfteste Held, den je ein Neo-Western hervorgebracht hat: Es ist Cookies Hand, die – beim Pilzesuchen – den Salamander rettet. Etwas später rettet Cookie einen nackten Mann, der sich unter dem Blattgrün des Waldes versteckt hält und artig „Guten Tag“ sagt, als Cookie ihn entdeckt. Der Mann heißt King-Lu (Orion Lee), stammt aus China, ist auf der Flucht vor ein paar russischen Kopfgeldjägern und darf die Nacht klandestin in Cookies Zelt verbringen.
Wie die beiden Männer sich wenig später in einem rudimentären Prä-Saloon wiedertreffen, hat Reichardt (in ihrer Adaption des Romans „The Half Life“ von Jonathan Raymond) trotz des düsteren Settings in eine Symbolik des Friedens, der (in dieser Umgebung raren) weiblichen Attribute eingenistet: Als in dem schmuddeligen Kneipenloch eine Prügelei ausbricht, bekommt Cookie, der still sein Bier trinkt, von einem bulligen Westman ein Baby in einem Korb zugeschoben: „Kannst du mal kurz darauf aufpassen, während ich mich schlage?“ Cookie kann, das Baby nuckelt zufrieden am Schnullerlumpen.
Empfohlener externer Inhalt
Hausarbeit und Schlummertrunk
Später nimmt Lu seinen neuen Freund zum Schlummertrunk mit in die selbstgebaute Hütte. Und während Lu draußen ein bisschen Holz hackt, macht Cookie sich nützlich: Er fegt den Schuppen, schüttelt die Fußmatte aus und stellt ein paar abgerissene Blumen ins Fenster. Er macht’s den beiden nach Kräften gemütlich.
Denn Lu, Cookie und höchstwahrscheinlich auch alle anderen Menschen sind empfänglich für Gemütlichkeit, für Frieden – und für Kulinarik. Der zurückhaltende Cookie stellt sich als versierter Koch und Patissier heraus. Wenn er Milch hätte, sinniert er eines behaglichen Abends in Lus Hütte, könnte er Krapfenteig anrühren, die Dinger in Fett frittieren und dann mit Honig bestreichen, hmmm …
Dass der britische „Chief Factor“ (Toby Jones) der Gegend gerade eine Kuh – die titelgebende „First Cow“ von Oregon – geliefert bekommen hat, bringt den unternehmerisch fuchsschlauen und stetig vom Erfolg träumenden Lu auf eine Idee. Könnte man die Kuh nicht heimlich melken, zum Beispiel nachts, wenn ihr Besitzer nichts davon mitbekommt? Die (mit sahniger Milch verfeinerten) Krapfen wären der Renner auf dem armseligen Marktplatz.
So bringt „First Cow“ mit seiner Geschichte leichterhand die Themen Frühkapitalismus und toxische Männlichkeit zusammen. Denn (weiße) Männer, Einwanderer, sind in der Historie der USA üblicherweise wilde Kerle, die Tod und Teufel und den Attacken der Ureinwohner:innen trotzen müssen, um in der unwirtlichen Umgebung zu überleben, um „es zu schaffen“. Die dabei viel ihrer Menschlichkeit über Bord werfen, die lernen, sich zu nehmen, was sie wollen.
Die Kuh streicheln
Bei Reichardt ist es anders. Sie zeigt, welche Möglichkeiten es noch gibt: Man(n) kann sich von der Gewalt distanzieren.
Man kann das Wesen des anderen respektieren, Kühe streicheln (die schönste Szene des Films ist die höfliche erste Annäherung Cookies an das zwangsemigrierte Rind), Krapfen backen und verkaufen, abends in der Hütte sitzen und Pläne schmieden. Einfach befreundet sein. Männliche Gefühle, und das ist ein weiterer weiser Schachzug von Reichardt und Raymond, kann man auch ohne angedeutete oder explizite Homoerotik und ohne „Männerfreundschaft“-Klischees inklusive Besäufnis und gemeinsamem Sporterleben darstellen.
In Jacques Audiards 1851 ebenfalls im frühen Oregon spielenden Drama „The Sisters Brothers“ aus dem Jahr 2018 gibt es eine ähnliche Figur unter den brutal agierenden titelgebenden Revolverhelden: Auftragskiller Eli Sisters, gespielt von John C. Reilly, ist zwar schnell mit der Knarre zur Hand, sein überaus gefühlloser Bruder Charlie (Joaquin Phoenix) sogar noch schneller.
Doch Eli hat auch eine andere, sensible Seite. Er genießt das saubere Gefühl, nachdem er sich mit dem neuartigen „Zahnpulver“ die Beißer geputzt hat. Und angestachelt von Ideen des Mannes, den die Brüder eigentlich töten sollen, denkt Eli immer mehr darüber nach, was passierte, wenn man sich gewaltfrei verständigen, nicht mehr das Recht des Stärkeren anwenden würde: Ist das überhaupt möglich?
Bei Kelly Reichardt hält sich die Kamera von Anfang an aus der Gewalt heraus, dreht (in handgreiflichen Situationen) weg, filmt etwas anderes, Friedfertigeres. Ihre Bilder (Kamera: Christopher Blauvelt) flackern sanft und weich im natürlichen Licht, dazu zupft der Folk-Musiker William Tyler ein paar ulkige Töne, die nie ins Folkloristisch-Esoterische driften, sondern stets einen leisen Humor mitschwingen lassen.
Klischeefrei gendern
Ihre beiden ungewöhnlichen Helden werden dennoch irgendwann eingeholt von einem damals (wie heute) geltenden Konsens. Doch Reichardt schafft es, mit ihrer retrospektiven Geschichte hoffnungsvoll nach vorne zu deuten, das Thema Gender trotz des vor Machoklischees wimmelnden Schauplatzes modern und klischeefrei anzugehen: Männer sind und waren eben nicht immer nur tumbe Typen, die nur Sex und Gewalt im Kopf haben. Sondern unterhalten sich, wenn sie allein sind, auch mal über Rezepte.
Als „First Cow“ vor zwei Jahren im Wettbewerb der Berlinale lief, bildete er ein wohltuendes Gegengewicht zu Filmen wie „DAU. Natasha“ von Ilja Chrschanowski, „Favolacce“ von den Brüdern D’Innocenzo oder „Siberia“ von Abel Ferrara, die – neben vielen Qualitäten – teils doch wieder auf altbekannte Stereotype des triebgesteuerten, in sich zerfressenen, unzufriedenen Mannes aufbauten.
Reichardt beweist in „First Cow“, dass ein feministischer Film nicht unbedingt weibliche Hauptrollen braucht. Und dass aus ihrer weißen Erzählperspektive heraus (Reichardt und der Drehbuch- und Romanautor Raymond sind langjährige Arbeitspartner:innen) durchaus sensibel von der Kolonialisierungsgeschichte Amerikas berichtet werden kann.
In einer herrlich-absurden Szene möchte der ehrgeizige Chief Factor hochrangigem britischem Besuch ein von Cookie gebackenes Spezialdessert (den Pfannkuchenauflauf Clafoutis) kredenzen. Zum Festschmaus lädt er auch einen Stammeshäuptling ein, und zwingt ihm ein Gespräch über die Biberschwanz-Hutmode auf. Der Häuptling lässt sich seine Verwunderung nicht anmerken.
Aber komisch, das sah man schon vorher an den Reaktionen der Ureinwohner:innen auf die Floßfahrt der Kuh, wirken hier eigentlich immer nur diese weißen Eindringlinge mit ihren Hierarchien, Angebereien, Eitelkeiten und Essgewohnheiten. „First Cow“ zeigt, was sich gesellschaftlich im Denken und Handeln verändern könnte. Weil es sich verändern muss.
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