Fehlende Schulen in Ostdeutschland: Drei Stunden Anfahrt mit dem Bus
Ok, in Berlin läuft nicht alles glatt an den Schulen. Das ist aber oft nichts verglichen mit den Problemen vieler Schüler*innen etwa in Brandenburg.
„Meine Tochter nimmt das soweit hin“, sagt Diana Nurkewitz, die mit ihrer Familie im Dörfchen Millienhagen wohnt und in einer Elterninitiative für kürzere Wegezeiten kämpft. „Aber als Mutter sehe ich, das ist schon ein Problem.“ Ein Problem gleicher Bildungs- und Lebenschancen. Ein Problem, das nicht leicht zu lösen ist.
Das System Schule ist fast überall unter Druck, weil Lehrer fehlen. Vielleicht noch drastischer als in der Stadt spüren das viele auf dem Land und da besonders in sehr dünn besiedelten Gegenden Ostdeutschlands. In der brandenburgischen Uckermark ist die Rede von Pendelzeiten für Schüler von 270 Minuten pro Tag. Das sind viereinhalb Stunden.
Und selbst dieses löchrige Schulangebot ist nur mit Mühe aufrecht zu erhalten. Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) trat jüngst im Streit über die richtigen Konzepte zurück. In Thüringen wird um Mindestklassengrößen gerungen. Sachsen lässt Miniklassen zu, um weitere Schulschließungen zu vermeiden.
Hunderte Schulen geschlossen nach 1990
Im Osten gingen nach der Deutschen Einheit Hunderte Standorte verloren – damals, weil Kinder fehlten. In Mecklenburg-Vorpommern sank die Schülerzahl von 300 000 zu Zeiten des Mauerfalls bis 2010 auf knapp 130 000. Die Zahl der Schulen halbierte sich fast – von 960 auf 560. Die zumindest sollen bleiben, verspricht Bildungsministerin Simone Oldenburg (Linke). Aber reicht das? Seit 2009 steigen die Schülerzahlen wieder, seit Ankunft der Flüchtlingskinder aus der Ukraine sogar deutlich.
So hat es auch Diana Nurkewitz erlebt. Auf dem Gymnasium ihrer Tochter in Grimmen seien die Klassen voll, sagt die Mutter. Ihr Traum wäre es, das 2008 geschlossene Gymnasium in Franzburg wieder zu öffnen. Das liegt nur wenige Autominuten von ihrem Wohnort Millienhagen entfernt, der dreistündige Schulweg mit dem Bus hätte sich erledigt. „Aber das wird nicht passieren“, sagt Nurkewitz. Denn auch sie weiß: „Da bewirbt sich niemand hin.“ Die wenigen ausgebildeten Lehrer auf dem Markt bleiben lieber stadtnah.
Lehrermangel auf dem Land besonders groß
Der Lehrermangel treffe Schulen auf dem Land besonders, bestätigt die Greifswalder Erziehungswissenschaftlerin Anne Heller. Ihre Universität versucht, mit Programmen gegenzusteuern. In der „Lehrer-Landpartie“ fahren Kurse in ländliche Räume. Bildungsministerin Oldenburg verweist auf Zulagen von 20, ab Herbst sogar von 40 Prozent der monatlichen Bezüge für Referendarinnen und Referendare an ausgewählten ländlichen Schulen. Berufsanfängern in Mathematik, Informatik, Biologie, Chemie und Physik winken auf dem Land Boni.
Aber selbst wenn junge Lehrer fürs Ländliche offen sind, angetan von niedrigen Mieten und viel Luft zum Atmen – am Ende, so berichtet es Heller, bleiben Fragen nach dem nächsten Laden, der nächsten Kneipe, dem nächsten Theater, der Anbindung mit Bus oder Zug. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. „Das sind ganz fundamentale Probleme“, sagt die Bildungsexpertin.
„Das nimmt Bildungschancen“
Die Folgen sind für sie klar: „Das nimmt Bildungschancen“. Die Auswahl sei kleiner, etwa wenn man sich ein sprachlich oder naturwissenschaftlich ausgerichtetes Gymnasium wünscht, berichtet Heller. „Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass nicht Bildungschancen für alle angeboten werden.“ Die Wegezeiten nähmen den Kindern Zeit für Hobbys oder auch für Nachhilfe.
In einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung beschrieb Heller 2021 zwei wunde Punkte: Die Zahl der Abgänger ohne Abschluss ist in einigen entlegenen Gebieten besonders hoch. Und auf dem Land machen weniger Schüler Abi. In kreisfreien Großstädten gehen demnach 40 Prozent der Schulabgänger mit Hochschulreife. In dünn besiedelten ländlichen Kreisen sind es nur 28 Prozent. Mancher scheut die endlosen Wege und Mühen.
Wie den Unterricht sichern?
In entlegenen Ecken Brandenburgs ist das nicht anders. „Für mich ist ganz klar, dass wir den Unterricht in allen Regionen des Landes Brandenburgs sichern müssen“, betonte die nun ehemalige Ministerin Ernst in ihrer Rücktrittserklärung. Den Schritt begründete sie damit, dass ihre eigene Partei, die SPD, ihre Konzepte nicht mittrug.
Brandenburg braucht für das kommende Schuljahr nach offiziellen Prognosen 1.800 neue Lehrkräfte. Da so viele vollständig ausgebildete Pädagogen nicht auf dem Markt sind, wollte Ernst 200 Lehrerstellen in Stellen für Verwaltungsfachkräfte und Schulsozialarbeiter umwidmen. So sollten die Lehrer in Schulen auf dem Land mit hohem Anteil an Seiteneinsteigern von Verwaltungsaufgaben entlastet werden, um zumindest den vorgeschriebenen Unterricht zu garantieren.
Physik nur zwei Mal im Halbjahr
Der Knackpunkt waren geplante Kürzungen an anderer Stelle, nämlich bei Ressourcen für Förder- und Ganztagsunterricht sowie für Inklusion. Da rebellierten die SPD-Landtagsfraktion und die mitregierenden Grünen. Auch der Landesschülerrat Brandenburg findet, dass es mit Umverteilung nicht getan ist. „Das Land muss einfach mehr Geld in die Hand nehmen“, sagt Schülervertreter Paul Neumann.
Was Lehrermangel heißt, kann der 18-jährige Abiturient recht plastisch beschreiben: „Von der 7. bis zur 10. Klasse hatte ich fast kein Physik“, erzählt Neumann von seinem Gymnasium in Erkner. „Fast kein“ heißt ein oder zwei Stunden pro Halbjahr. „Es gibt sehr wenig Lehrer, und wenn dann noch einer ausfällt, gibt es gar keinen Unterricht mehr“, sagt Neumann. Man kann sich vorstellen, dass nach einer solchen Schulzeit nicht allzu viele Physik studieren werden. Wieder so ein Katze-Schwanz-Problem.
Sachsen mit Sonderregelungen
Auch Sachsen kämpft mit Lehrermangel und Stundenausfall, auch Kultusminister Christian Piwarz (CDU) will aber keine Schulschließungen: „Ein Basisnetz an Schulen im ländlichen Raum ist bereits festgelegt. Weitere Reduzierungen sind seitens des Freistaates derzeit nicht vorgesehen.“ Der Freistaat erinnert sich noch gut an die Proteste ab Mitte der 1990er. Bis 2010 wurden auch hier rund 1.000 Schulen dicht gemacht. Seither gewährt man lieber Ausnahmen, sollte die erforderliche Schülerzahl unterschritten sein.
Laut Kultusministerium führen derzeit 20 Grundschulen gesetzeskonform eine oder mehrere Klassen unterhalb der Mindestschülerzahl von 15. Davon sind 19 im ländlichen Raum. Bei einer Gesamtzahl von mindestens 60 Schülern pro Schule ist auch eine Klasse mit weniger als 12 Kindern möglich. Wird auch diese Zahl verfehlt, sind jahrgangsübergreifenden Klassen denkbar. Eine offizielle Prognose geht aber von steigenden Schülerzahlen bis 2029/30 aus. Mindestens bis dahin fehlen vor allem Lehrerinnen und Lehrer.
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