Fehlende Inklusionsplätze in Kitas: Hamburg behindert Kinder
Hamburgs Sozialbehörde baut bei der Förderung behinderter Kinder in der Kita zu viele Hürden auf. Das kritisieren zwei Wohlfahrtsverbände.
Konkret aufgefallen war ihm die neue Praxis in einer Kita in Billstedt, die schon viele Jahre auch eine Betriebserlaubnis für die sogenannte „Eingliederungshilfe“ (EGH) hat. Dazu muss man wissen: In Hamburg gibt es ein „Kita-Gutscheinsystem“, das heißt, die Kitas bekommen ihr Geld nur über Gutscheine, die die Eltern von der Stadt bekommen und vor Ort einlösen.
Von Behinderung bedrohte Kinder haben einen Anspruch auf frühe Förderung in der Kita, um eine Entwicklungsverzögerung zu vermeiden oder die Folgen einer Behinderung zu mildern. Sie bekommen den „EGH-Gutschein“, der je nach Bedarf noch bis zu fünf „Zuschlagstufen“ enthält.
Jene Kita hatte ein Kind im Jahr zuvor schon betreut, und zwar mit der Zuschlagstufe vier. Doch im Juni 2024, als das Kind einen Anschlussgutschein erhielt, teilte die Sozialbehörde mit, die Abrechnung sei nicht möglich. Der Kita fehle für die Zuschlagstufe die nötige Betriebserlaubnis.
Kita arbeitet erst mal ohne Geld
Früher hätte hier eine Ausnahmegenehmigung gereicht, berichtet Fieguth. Nun sei diese abgelehnt worden. Die Kita sollte stattdessen eine neue Betriebserlaubnis für EGH mit Zuschlagstufen beantragen. Die Kita habe das Kind weiter betreut und die nötige Frühförderung und Therapie erbracht – erst mal, ohne dafür Geld von der Behörde zu sehen. „Hätte sie das nicht getan, hätte das Kind die Einrichtung verlassen müssen“, ärgert sich Fieguth.
Doch nur etwa jede dritte Kita hat laut Soal überhaupt eine Erlaubnis für EGH. Und die Zahl der von Behinderung bedrohten Kinder ist in Hamburg stark gestiegen: von 2.221 im Jahr 2017 auf 3.119 im Jahr 2023.
Dass Plätze hier rar sind, zeigt auch, dass sich diese Eltern am häufigsten hilfesuchend an die Stadt wenden. „Allein im Jahr 2024 konnten bis zu 40 Kinder keinen Kita-Platz finden“, schreibt Soal. Da sich nicht alle Familien in offizielle Wartelisten eintrügen, dürfte die Dunkelziffer höher sein. Die lange und mitunter erfolglose Suche sei für das Kind und seine Familie „häufig eine Katastrophe“, heißt es in einem offenen Brief des Soal, der rund 180 Kitas vertritt.
Auch anderen Verbänden brennt die Sache auf den Nägeln. „Die Behörde hat eine neue Rechtsauffassung zum Bestandsschutz bei Betriebserlaubnissen“, sagt Tom Töpfer, Kita-Bereichsleiter beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem in Hamburg über 300 Kitas angehören.
„Es gibt bei uns Einrichtungen, die bisher mit Ausnahmegenehmigung ein, zwei EGH-Kinder betreuen. Da heißt es dann: Jetzt gilt das nicht mehr, ihr braucht eine Betriebserlaubnis, um diese Kinder zu betreuen“, berichtet Töpfer. Doch das sei dann mit bürokratischen und baurechtlichen Hürden verbunden, die viele Träger nicht ad hoc stemmen könnten. „In einigen Fällen droht, dass diese Kinder ihren Kita-Platz verlieren.“
Behörde drückt noch mal ein Auge zu
Das Thema sei „komplex“, sagt Töpfer. Die Schwierigkeit beginne oft beim Übergang von der Krippe in den Elementarbereich. Ab drei haben Kinder mit drohender Behinderung den Anspruch auf den EGH-Gutschein. Hier kann es passieren, dass Kinder, die in der Krippe bereits betreut und gefördert werden, aus rechtlichen Gründen nicht bleiben können.
Für den Fall in Billstedt gab es nach „monatelangem Hin und Her“ kurz vor Weihnachten noch eine Regelung. Das Kind konnte bleiben und die Kita das ausgelegte Geld bekommen. Da wurde noch mal eine Ausnahme gewährt, sagt Fieguth. Die Behörde habe zugesagt, das Problem zeitnah im Grundsatz zu regeln.
In dem offenen Brief schreiben Fieguth und seine Kollegin Susanne Stemmer, sie sähen im Behördenverhalten eine „strukturelle Gefährdung des Kindeswohls“. Es gebe keinen juristisch triftigen Grund für das „rigide Verhalten“ der Behörde. Ein Kita-Wechsel aus solchen Gründen sei unzumutbar und durch den Platzmangel fast unmöglich.
Die Kita-Träger bräuchten eine zugewandte und unterstützende Verwaltung. Kurzfristig sollten alle bisherigen Inklusionskitas auch als solche mit allen Zuschlagstufen anerkannt werden. Und die Behörde müsse das Personal der Kita-Aufsicht vorrangig mit der Bearbeitung dieser Erlaubnisse und Schaffung neuer Frühförderplätze beauftragen.
Sabine Kümmerle, Soal
Zumindest das sichert die Sozialbehörde zu. Diese Anträge würden priorisiert bearbeitet. Die Behörde habe mehr Personal für diesen Bereich der Kita-Aufsicht gewonnen, berichtet ihr Sprecher Wolfgang Arnhold. Dass für eine Erweiterung der Leistungsarten die Betriebserlaubnis geändert werden müsse, schreibe nun mal das Gesetz vor. Es sei auch nicht passiert, dass Kinder, für die es schon eine Ausnahmegenehmigung gab, nicht mehr betreut werden konnten.
Vielmehr habe die Behörde den Träger geraten, die Erweiterung ihrer Betriebserlaubnisse zu beantragen, damit sie künftig eine flexible Grundlage hätten. Es gebe hier eine einstellige Zahl von Anträgen. Zu den Forderungen des Soal sagt Arnhold, die Behörde arbeite momentan an einer Vereinfachung des Regelwerks für Betriebserlaubnisse, auch bei EGH. Zudem solle die Kita-Frühförderung in den nächsten Jahren neu organisiert werden.
„Wir hören seit zehn Jahren, der Bereich soll reformiert werden“, sagt Soal-Chefin Sabine Kümmerle. „Mir fehlt das Vertrauen, dass das bald passiert.“ Tom Töpfer sagt, er vermisse ein tragfähiges Konzept, wie die Stadt die flächendeckende Versorgung mit Inklusionsplätzen sicherstellen wolle. „Durch das aktuelle Behördenhandeln werden eher EGH-Plätze abgebaut.“
Das Thema beschäftigt auch die Politik. „Wir haben den Brief erhalten“, sagt die grüne Kita-Politikerin Britta Herrmann. Man müsse Engpässen bei den EGH-Plätzen unbedingt entgegenwirken. Zentral sei die Beschäftigung von Heilpädagogen. Hier müsse die Ausbildung attraktiver werden. Grünes Ziel sei, „dass jede Kita in Hamburg eine Inklusionskita ist“. Die CDU-Politikerin Silke Seif mahnt, Hamburg hätte längst sein Gutscheinsystem evaluieren müssen. Jetzt brauche man für die Kinder schnell eine unbürokratische Lösung.
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