Faul oder nicht faul, das ist die Frage: Fachkräftemangel? Geil!
Arbeitnehmer:innen sind so mächtig wie nie zuvor. Dank des Geburtenknicks werden sie zum raren Gut, das ungeniert Forderungen stellen kann.
E in Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des Fachkräftemangels. Alle Mächte der Bundesrepublik haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Kanzler und der Arbeitgeberverband, Finanzminister Lindner und Vizekanzler Habeck. Alle wollen ihn bekämpfen. Weil Menschen fehlen, die die Arbeit erledigen: in der Pflege, der Solarindustrie, an Schulen. Weil die Wirtschaft leidet und damit die Gesellschaft.
Tatsächlich aber ist der viel beschworene Arbeitskräftemangel Anlass für ein befreites Tänzchen der arbeitenden Klasse am 1. Mai. Denn nie war es leichter als heute, Forderungen, Wünsche, Utopien der Arbeitenden durchzusetzen. Ganz einfach, weil sie Mangelware sind und es über Jahrzehnte bleiben werden.
Der Grund dafür: der demografische Wandel. Wenn über den debattiert wird, geht es häufig um die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre, die jetzt in Rente gehen. Übersehen wird dabei die Entwicklung am unteren Ende der Bevölkerungspyramide: der dramatische Einbruch der Geburten in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Zuerst zu spüren bekamen den die Ausbildungsbetriebe gegen Ende der nuller Jahre. Da wurde plötzlich vielfach geklagt, dass die Jugend zu dumm sei, dass sich keine geeigneten Azubis mehr finden ließen.
Das Problem aber waren weniger der Bildungsstand als die Masse der Jugendlichen. 2005 lebten in Deutschland noch fast 6 Millionen Menschen zwischen 15 und 20 Jahren. 2011 waren es weniger als 5 Millionen – ein Rückgang um mehr als 15 Prozent. Seither hat sich die Zahl auf diesem Niveau eingependelt. Und die neuesten Geburtenzahlen zeigen, dass sich daran in Zukunft nichts ändern wird.
leitet das Regie-Ressort der taz. War früher mal Hausbesetzer, beschäftigt sich mit allen Formen von Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie: Volksentscheiden, Demonstrationen, Demonstrationsrecht und allen Arten linker Bewegungen, etwa wenn es um die Unterstützung von Flüchtlingen geht.
Plötzlich haben Azubis die Wahl
Kein Wunder, dass die Betriebe sich schwertaten, ihre Lehrstellen zu besetzen. Kein Wunder aber auch, dass immer mehr junge Leute ihre Ausbildung abbrachen. Denn wenn ein Ausbildungsplatz keine Mangelware mehr ist und die Nachfragenden plötzlich die Wahl haben, dann lassen sie sich nicht mehr jeden Mist gefallen. Und ziehen weiter, wenn der Meister nichts zu bieten hat als Mist ohne Lohn. Lehrjahre sind keine Herrenjahren? Mir doch egal! Mittlerweile sind die Nachwendejahrgänge schon Anfang 30. Ihre Macht durch Mangel hat fast alle Branchen erreicht.
Auch das Stöhnen der Gastronomie, die nach der Coronapandemie nicht mehr ausreichend Personal findet, lässt sich so erklären. Nicht weil alle fluchtartig die Branche verlassen haben, sondern weil Kellnern für manche junge Leute ein Lebensabschnitt ist. Mit über 30 ziehen sie weiter, in besser bezahlte, familienkompatiblere Jobs. Wenn dann weniger junge Leute nachrücken, stehen Kneipenbesitzer allein hinterm Tresen.
Mit anderen Worten: Das größte Problem für die Arbeitgeber:innen ist weniger der Fachkräftemangel, es ist ein Mangel an Menschen. Damit verbunden ist ein nicht zu unterschätzender Rollenwechsel: vom Arbeitgeber, was ja gewollt großzügig klingt, zum Arbeitskräftesuchenden, was der aktuellen Verzweiflung in einigen Branchen gerechter würde. Diese Verzweiflung ist längst zum Faustpfand für die Werktätigen geworden.
Lehrer:innen wollen nicht zur 1. Stunde kommen
Das sieht man nicht nur an den Tarifabschlüssen, die die Gewerkschaften zuletzt bei der Bahn und der Lufthansa durchsetzen konnten. Bei denen geht es längst nicht mehr nur ums Geld, sondern eben auch um Arbeitszeiten. Um Teilzeit- oder Schichtmodelle, die sich nicht nur nach den Bedürfnissen der Betriebe, sondern auch nach den Lebensumständen der Mitarbeiter:innen richten. Das setzt Maßstäbe. Schulleiter:innen berichten verwundert über junge Kolleg:innen, die gern unterrichten wollen, aber nie zur ersten Stunde. Das passt zwar nicht zur Struktur einer Schule mit Beamtenmentalität. Aber wer die händeringend gesuchten Nachwuchslehrer:innen halten will, muss sich schon was einfallen lassen.
Noch stöhnen die Arbeitgeber:innen aller mögliche Branchen über die Ansprüche der jungen Generationen. Aber Fakt ist: Die sind gar nicht neu oder übertrieben oder dreister als bei ihren angeblich so arbeitsamen Vorgänger:innen. Sie haben mittlerweile aber die Möglichkeit, davon zu träumen. Und sie haben die Macht, diese einzufordern. Es geht ganz praktisch um den alten linken Spontispruch: Her mit dem schönen Leben!
Eine Firma, die das ihren Mitarbeiter:innen nicht bieten kann, muss sich nicht wundern, wenn die jungen Leute weiterziehen. Kluge Arbeitgeber:innen bauen daher längst vor und investieren – in ihr Personal. Denn jede Kolleg:in, die nicht abwandert, ist ein Gewinn.
Für Mitarbeiterwohnungen wird Werbung gemacht
Den Möglichkeiten, Fachkräfte nicht ersetzen zu müssen, sind nahezu keine Grenzen gesetzt. Da gibt es Firmen, die ihre Angestellten mit wirklich gut schmeckendem Essen begeistern. Da gibt es Kliniken, die ihren Pflegekräften garantieren, dass sie in allen Schulferien und Brückentagen frei haben. Das macht die Dienstplanung nicht gerade einfach. Aber für Eltern mit Schulkindern ist es ein Traum, für den viele auch auf Einkommen verzichten. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis Arbeitgeber erkennen, womit sie Kolleg:innen wirklich an den Betrieb binden können: Mitarbeiterwohnungen! In einschlägigen Portalen wird schon kräftig Werbung gemacht.
Eine Firma, die vor allem in Großstädten mit völlig aus dem Ruder gelaufenen Wohnungsmarkt neben dem Job auch eine Unterkunft bieten kann, liegt ganz weit vorn. Es muss ja nicht gleich der Bau ganzer Siedlungen sein, wie ihn arbeiternehmerpflegende Industrielle noch vor 100 Jahren betrieben. Aber ein paar Wohnungen sollte ein zeitgemäßer Betrieb schon im Portfolio haben. Und machen wir uns nichts vor: Viele Arbeitgeber werden die Gewinne der vergangenen Jahre ohnehin in Immobilien investiert haben. Jetzt bekommen sie die Chance, dieses Kapital auf ganz neue Weise zu nutzen. Denn es dürfte nicht wundern, wenn kluge Gewerkschaften beim nächsten Arbeitskampf das Recht auf Wohnen einfordern.
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