Familiennachzug und Jamaika: Eine Frage der Ehre
Der Familiennachzug ist neben der Obergrenze einer der größten Streitpunkte bei den Jamaika-Sondierer*innen. Das liegt vor allem an der CSU.
Wer verstehen will, warum ein lange Zeit abseitiges asylpolitisches Thema wie der Familiennachzug den Prozess der Regierungsbildung bestimmt wie kaum ein anderes, muss einen Blick zurück in die Zeit werfen, als die „Balkanroute“ nach Deutschland noch offen war. Im Oktober 2015 steckten die Innenbehörden der Bild-Zeitung eine „Geheimakte“ zu. In dieser Prognose hieß es, die Behörden rechneten „aufgrund der familiären Strukturen in den Herkunftsstaaten des Nahen Ostens mit einem Familien-Faktor von ‚vier bis acht‘“. Und das bedeute: Aus den etwa 920.000 Asylbewerbern, die für die Zeit von Oktober bis Dezember 2015 erwartet wurden, „könnten durch Familiennachzug bis zu 7,36 Millionen Asylberechtigte werden, die in Deutschland leben wollen“ – so zitierte die Bild aus dem Papier.
Die Zahl entbehrte jeder Grundlage. Deswegen verriet die Bild auch nie, welche Behörde die Berechnung angestellt hatte. Aber andere Medien griffen den Bericht auf, die Zahl war in der Welt. Und der Familiennachzug wurde – neben der Obergrenze – zu dem Schlüsselthema, mit dem die CSU zeigen wollte, dass sie – und nur sie – die vermeintlich katastrophalen Folgen von Merkels Asylkurs stoppen konnte.
Dazu bedurfte es eines Tricks: Vor dem Eindruck der falschen Millionenprognosen in den Schlagzeilen beschlossen die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD am 5. November 2015, das Recht zum Familiennachzug für Flüchtlinge mit sogenanntem subsidiärem Schutz für zwei Jahre auszusetzen. Ein entsprechendes Gesetz wurde bald darauf verabschiedet.
Der Hintergrund ist, dass Flüchtlinge, die unter die Genfer Konvention fallen, auf jeden Fall das Recht haben, ihre Angehörigen nachzuholen. Bei jenen mit subsidiärem Schutz, einer Art Asyl light, steht es den Aufnahmeländern aber frei, dieses Recht zu gewähren oder eben nicht. Bis dahin hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) SyrerInnen meist als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention eingestuft. Plötzlich aber bekamen sie meist nur noch subsidiären Schutz – und durften ihre Familien nicht mehr zu sich holen. Seit Januar 2017 etwa betraf dies rund 57 Prozent der syrischen Antragsteller – etwa 49.400 von 85.500 Syrer, denen Schutz zugesprochen wurde.
Symbolische Abgrenzung gegen Merkel
Ursula Gräfin Praschma, die Leiterin der Abteilung „Grundlagen des Asylverfahrens“ im Bamf, behauptete später, die plötzliche Neigung ihrer Behörde, Syrern nur noch subsidiären Schutz zu gewähren, habe mit dem „geänderten Vortrag“ der Antragsteller zu tun – die Syrer hätten also bei ihren Anhörungen plötzlich andere Geschichten erzählt als jene zuvor. Tatsächlich dürfte das Bundesinnenministerium die neue Zuerkennungspraxis durchgesetzt haben.
So konnte die Familienpartei CSU für sich reklamieren, den weiteren Nachzug von angeblich Millionen weiteren SyrerInnen vorerst verhindert zu haben – ein für sie überaus wichtiger symbolischer Punkt in der Abgrenzung gegen Merkel. Den kann sie heute nicht ohne Gesichtsverlust wieder aufgeben.
Im Laufe der Zeit allerdings stellte sich heraus, dass der „Familien-Faktor von ‚vier bis acht‘“ an den Haaren herbeigezogen waren. Das Bamf schätzte den Nachzugsfaktor zuletzt auf 0,9 bis 1,2. Und kürzlich präsentierte die Linksfraktion Zahlen aus den Antworten auf parlamentarische Anfragen. Demnach haben von 2015 bis Mitte 2017 etwa 360.000 syrische und irakische Asylsuchende Schutz nach der Genfer Konvention erhalten, der nach wie vor zum Familiennachzug berechtigt.
In der gleichen Zeit wurden dafür jedoch nur gut 100.000 Visa für den Familiennachzug erteilt. Dazu kommen rund 70.000 Familienangehörige, die noch darauf warten, ein entsprechendes Visum zu beantragen. „Daraus ergibt sich ein rechnerischer ‚Nachzugsfaktor‘ von 0,5“, heißt es in einer Stellungnahme der Linksfraktion.
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