Familienberaterin über Ohnmachtsgefühle: „Die Eltern ackern und rackern“
Grundgefühl Ohnmacht: Die Bremer Familienberaterin Ini Friedrichs sieht sich zunehmend mit überforderten Eltern und Jugendlichen konfrontiert.
taz: Warum ist für Sie als Erziehungsberaterin Ohnmacht so ein wichtiges Thema, Frau Friedrichs?
Ini Friedrichs: Weil wir sie zunehmend feststellen als ein Phänomen bei Kindern, Jugendlichen und Eltern: Die Kräfte reichen nicht aus, um die ganzen Herausforderungen, die auf sie einprasseln, zu bewältigen.
taz: Was sind das für Herausforderungen?
Friedrichs: Wir merken, dass die gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre ihre Spuren hinterlassen haben und dass die Anforderungen an die einzelnen groß sind, durch Trennung in der Familie, psychische Erkrankungen. Natürlich gibt es viele Familien, Kinder und Jugendliche, die eigenständig Wege der Bewältigung finden. Aber einige unserer Klient:innen scheinen zunehmend gar nicht mehr zu wissen, wo sie anfangen und was sie machen sollen. Deshalb haben wir gesagt, dass wir es zum Thema unserer Jahrestagung machen.
taz: Ist dieses Gefühl von Ohnmacht nicht oft realistisch?
Friedrichs: Das ist gleich etwas, womit man in der Beratung arbeiten kann, indem man schaut: Worauf habe ich keinen Einfluss und kann vielleicht auch aufhören, mich daran abzuarbeiten – und auf der anderen Seite die Bereiche sucht, wo man durchaus Einfluss hat und einen anderen Umgang finden oder Familie anders gestalten kann. Diese Schritte sieht man eben manchmal nicht in dem Gefühl von Überforderung.
Wie können Sie dabei helfen?
51, ist Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungs- und Familienberatung im Land Bremen, arbeitet als Familienberaterin und ist Mitveranstalterin der wissenschaftlichen Jahrestagung für Erziehungs- und Familienberatung in Bremen vom 25. bis 27. 9. unter dem Titel „Ohnmacht? Ermutigung!“.
Friedrichs: Wir versuchen zu schauen, wer zur Lösung beitragen kann, wen wir beteiligen müssen, damit sich eine Dynamik wirklich verändern lässt. Das können die Eltern oder Geschwister sein, aber auch die beste Freundin oder die Oma oder die Vertrauenslehrerin, denn manchmal braucht man mehr als eine Person, um wirklich einen Unterschied zu machen. Wir versuchen immer, eine ermutigende Botschaft in unseren Gesprächen zu haben. Etwa wenn wir fragen: „Mensch, wie kommst du eigentlich damit klar, was du da alles auf den Schultern hast?“
taz: Gehen Erwachsene und Kinder unterschiedlich mit Ohnmachtsgefühlen um?
Friedrichs: Kinder bleiben ja selten lange in einem Gefühl stecken. Sie können auch mit sehr, sehr schwierigen Situationen so umgehen, dass die auftauchen, groß und mächtig wirken, und eine halbe Stunde später können sie schon wieder vergnügt spielen. Wir Erwachsene und auch teilweise die Jugendlichen werden eher von langen Stimmungsveränderungen geplagt. Wir haben hier Jugendliche, die stark in den Rückzug gehen, die Schule meiden und sich den Entwicklungsaufgaben, etwa im Bereich Autonomie oder Identitätsfindung, gar nicht mehr stellen. Wir haben aber auch Jugendliche, die die Ohnmacht überlagern mit einem Gefühl von „Ich nehme mir, was ich brauche“, das aber nicht unbedingt auf eine gesunde und gesellschaftlich verträgliche Art und Weise tun.
taz: Und die Eltern?
Friedrichs: Die ackern und rackern, gerade die mit den kleinen Kindern, die keine gesicherte Kinderbetreuung haben und immer mehr finanzielle Sorgen. Sie sind auch durch die Weltlage gedrückt in ihrer Stimmung, haben Schwierigkeiten bei der Vereinbarung von Job und Familie und merken überhaupt nicht, wenn ihr Akku leer ist.
taz: In der Theorie, würde ich denken, gibt es ein großes Bewusstsein für die Belastungen von Jugendlichen. Setzt sich das nicht in die Praxis um?
Friedrichs: Die Jugendlichen nehmen wahnsinnig viel wahr, was gesellschaftspolitisch um sie herum passiert. Ich glaube, dass der Zeitpunkt immer früher kommt, an dem sie anfangen, sich damit auseinanderzusetzen; es gibt Kinder, die abends nicht einschlafen können, weil sie sich ums Klima Sorgen machen oder den Rechtsruck. Da gibt es Jugendliche, die total alarmiert sind davon, und solche, die aktiv werden können. Und zu den Anforderungen der Schule: Wir haben auch Jugendliche, die versuchen, alles perfekt und ihren Eltern alles recht zu machen und dabei den Kontakt zu sich und den eigenen Bedürfnissen verloren haben. Das zeigt sich dann manchmal in Ängsten, Zwangsverhalten oder Essstörungen.
taz: Auf der Tagung werden Sie auch die eigene Ohnmacht als Beratende – inhaltlich und von den Ressourcen her – in den Blick nehmen.
Wissenschaftliche Jahrestagung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, 25. – 27. September, Hochschule Bremen/Kulturkirche St. Stephani
Friedrichs: Wir hatten immer schon mit schwierigen Themen zu tun: mit traumatisierten Familien, mit Gewalt in der Familie, mit psychischen Erkrankungen. Aber jetzt wirken auf einzelne Familien so viele Belastungsereignisse, dass die Fälle komplexer werden. Wir merken, dass wir von der Ausstattung her an unsere Grenzen kommen, nicht von der Fachlichkeit, und dass das psychosoziale Hilfesystem insgesamt leider relativ erschöpft ist.
taz: Wie wirkt sich das konkret aus?
Friedrichs: Wenn wir zum Beispiel hier in Bremen jemanden haben, bei dem sich herausstellt, dass es Traumaerfahrungen gibt und eine Therapie notwendig ist, dann wartet die Person bis zu einem Jahr auf den Therapieplatz. Und die Wartezeiten steigen nicht nur im psychotherapeutischen Bereich, sondern auch, wenn es um Diagnostik für Kinder mit Auffälligkeiten geht. Wir überbrücken das. Aber wöchentliche Termine über einen langen Zeitraum sind bei uns nicht möglich. Unsere Arbeit ist eher so gedacht, dass wir reingehen, bevor die Probleme riesengroß werden. Es schafft natürlich ein Gefühl von Ohnmacht, wenn man weiß, eigentlich ist es unsere Aufgabe, und wir sind auch dafür ausgebildet, aber wir haben einfach nicht die Ausstattung dafür, eine niedrigschwellige Versorgung anbieten zu können.
taz: Ist es ein Mangel, weil keine Stellen dafür geschaffen werden oder weil zu wenige, diese Arbeit machen wollen?
Friedrichs: Das ist ein echt schöner Job und wir haben das Glück, dass wir immer noch Menschen finden würden. Aber es ist kommunalpolitisch immer die Frage: Wie viel Personal wollen wir in welchen Bereich stecken – und überall ist es schwierig. Aber es fällt schon auf, dass in den Kommunen, wo die Erziehungsberatung relativ stark gemacht wurde, relativ wenig für Inobhutnahmen und Familienhilfen ausgegeben wird.
taz: Sie sagen: Es ist ein schöner Beruf. Ist das in der Außenwahrnehmung verloren gegangen über die Strukturprobleme?
Friedrichs: Deswegen ist uns dieses zweite Wort Ermutigung im Tagungstitel so wichtig. Wenn man guckt, was wir in unseren Beratungsräumen den ganzen Tag machen, dann ist das Ermutigung. Und es ist schon ein schöner Job, Menschen zu ermutigen und sie dabei begleiten zu können, ihre Situation zu verbessern. Da hat man auch wahnsinnig berührende, schöne Momente, wo man sehen kann, wie Probleme gelöst werden, wie Familien sich beruhigen, wie Kinder und Jugendliche sich entwickeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt