Explodierende Kosten: Ihr Kinderlein hungert
Die steigenden Preise treffen besonders Familien. Soziale Träger fürchten, dass viele bald noch ärmer werden. Die Politik muss mehr tun.
„Ich gehe davon aus, dass wir in wenigen Wochen Familien haben werden, die hungern müssen“, sagt Wolfgang Büscher, Sprecher der Arche. Das in Berlin gegründete Kinderhilfswerk betreibt inzwischen bundesweit 29 Einrichtungen in 15 Städten. Aktuell kämen mehr Kinder als zuvor, erklärt Büscher. Doch gleichzeitig gingen die Spenden zurück. „Immer mehr Mittelschichtler brechen weg.“ Derzeit könne man das durch die Spenden größerer Stiftungen und Unternehmen ausgleichen – noch.
Dass die Preise von Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Eiern oder Speiseöl drastisch gestiegen sind, sei für die Familien ein „Desaster“, sagt Büscher. „Immer mehr Mütter lassen ihr Mittagessen ausfallen, weil sie kein Geld mehr haben. Sie sparen dann lieber für ihre Kinder.“
Mütter und Väter, die für ihre Kinder zurückstecken – das kennt Jens-Uwe Scharf auch. „Die Expertise zeigt: Eltern werden alles in Bewegung setzen, damit nicht an den Kindern gespart wird“, sagt der Fachreferent für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe bei der Berliner Caritas.
Jedes vierte Berliner Kind wächst in Armut auf
Schon jetzt sei der Andrang auf die Beratungsstellen des katholischen Wohlfahrtsverbands, etwa auf die Familienberatung, sehr groß. Scharf rechnet damit, dass die Nachfrage nach Beratungsangeboten noch steigt, etwa weil ab Januar deutlich mehr Menschen Anspruch auf Wohngeld haben. „Die werden dann verstärkt auch unsere Beratungsstellen aufsuchen“, sagt er. Zudem könne es zu langen Wartezeiten bei den zuständigen Ämtern kommen. Deshalb sei unklar, wann die Hilfen wirklich bei den Menschen ankämen.
Wegen der explodierenden Energiekosten fürchten sich viele Familien vor Preiserhöhungen der Energieversorger, berichtet auch Sabine Bresche, die die Beratungsstelle des Berliner Kinderschutzbundes koordiniert. „Das bringt ganz viel Unsicherheit mit sich.“ In den Beratungen des Kinderschutzbunds zeige sich, dass die Familiensituation vieler Menschen angespannter werde.
„Wir dürfen nicht vergessen: Wir haben vorher zwei Jahre Corona gehabt, das war eine große Belastung für Familien“, sagt Bresche. Viele Familien hätten zudem schon vor der aktuellen Krise an allen Ecken und Enden gespart, um über die Runden zu kommen – da gebe es also kaum noch Einsparmöglichkeiten. Bresche befürchtet, dass nun noch mehr Kinder in die Armut abrutschen.
Schon jetzt lebt mehr als jedes vierte Kind in Berlin in einer Familie, die Grundsicherungsleistungen, also das sogenannte Hartz IV, bezieht. Damit ist die Quote knapp doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Nur in Bremen leben noch mehr Kinder in Familien, die existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen. Allerdings sind die Daten von 2019, aktuellere Zahlen gibt es noch nicht.
Zur Bekämpfung der Kinderarmut gibt es seit 2017 eine ressortübergreifende Landeskommission Kinder- und Familienarmut. Sie soll dafür sorgen, dass bestehende Angebote in den Bezirken miteinander verknüpft und ausgebaut werden. Die aktuellen Herausforderungen für Kinder und deren Familien betrachte man „mit Sorge“, erklärt eine Sprecherin der Bildungsverwaltung.
Beratung und Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten könnten Familien über die bereits bestehenden Angebote erhalten, etwa in den 14 Familienservicebüros. Dort werde ihnen auch beim Beantragen von Leistungen geholfen.
Es sei wichtig, Behörden und Zuständigkeiten zu bündeln, findet Caritas-Referent Scharf. „Das Wissen um die Unterstützungsstrukturen ist häufig nicht da“, erklärt er. Für Armutsbetroffene sei häufig nicht klar, welche Informationen sie wo bekommen können.
Kritik an bisherigen Entlastungspaketen
Dass die Bundesregierung über eine Kindergrundsicherung diskutiert, findet Scharf gut. Eine solche Grundsicherung für Kinder fordern auch Kinderschutzbund und Arche. Aktuell beträgt das Kindergeld 219 Euro (für das dritte Kind 225 und für das vierte Kind 250 Euro), hinzu können diverse Zuschläge kommen. Derzeit plant die Bundesregierung, das bestehende System mit einer Kindergrundsicherung zu vereinfachen, die einen einkommensunabhängigen Grundbetrag sowie gestaffelte Aufschläge beinhalten soll.
Geht es nach Arche-Sprecher Büscher, soll die Kindergrundsicherung 600 Euro betragen. Eine Hälfte solle direkt auf das Konto des Kindes und die andere Hälfte an die Schule oder Kita ausgezahlt werden. Büscher fordert außerdem, die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel für ein halbes Jahr abzuschaffen.
An den bisherigen Entlastungspaketen des Bundes üben viele Wohlfahrtsverbände Kritik. „Das Problem sind die Einmalzahlungen“, sagt Büscher. „Das ist völlig schwachsinnig“, sagt auch Sabine Werth, Gründerin der Berliner Tafel. Laufende Verteuerungen ließen sich nicht mit einmaligen Zahlungen ausgleichen. Sie fordert Steuern auf sogenannte Zufallsgewinne und eine Reichensteuer. „Es muss an der einen Seite genommen und der anderen Seite gegeben werden.“
Werth berichtet, dass zu manchen Tafel-Ausgabestellen inzwischen mehr als doppelt so viele Menschen wie zuvor kämen. Darunter seien viele, die nie gedacht hätten, mal auf die Tafel angewiesen zu sein. Inzwischen gebe es neben den 47 regulären Berliner Ausgabestellen acht zusätzliche Gemeinden, in denen Bedürftige Lebensmittel abholen könnten – wegen der Notsituation.
Ob nun mehr Eltern als zuvor zur Tafel gehen, dazu lägen erst in einigen Monaten Daten vor, sagt Werth. Allerdings seien bisher schon insgesamt zwei Drittel der Hilfesuchenden Jugendliche und Alleinerziehende.
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