Ex-Police-Schlagzeuger über gute Musik: „90 Prozent ist Quatsch“
Goethe lässt die Leute nicht mit den Hüften wackeln, dazu braucht es Musik: Stewart Copeland erklärt den Unterschied zwischen Orchestern und Rockbands.
taz am wochenende: Stewart Copeland, Sie kommen aus der Popmusik. Was fasziniert Sie an der Arbeit mit einem Orchester?
Stewart Copeland: Die Komplexität des Klangs. Rock-’n’-Roll-Instrumente können sehr effektiv sein, aber das Vokabular eines Orchesters ist einfach viel größer. Mir gefällt aber auch die Art des Musikers, die in einem Orchester spielt.
Und welche Art ist das?
Ich unterteile Musiker in zwei Kategorien: Musiker des Ohres und Musiker des Auges. In die erste Kategorie fallen Rockmusiker – sie können keine Noten lesen und verlassen sich ganz auf ihr Gehör. Ich habe 20 Jahre als Rockmusiker gearbeitet, ohne jemals ein Notenblatt zu Gesicht bekommen zu haben. Rock-’n’-Roller improvisieren. Man kennt die Akkorde, aber wie spielst du dazu? Das beantwortet man letztlich selbst. Ganz anders im Fall der Orchestermusiker: Ihre Berufung – man könnte sogar sagen ihre Religion – besteht darin, dem Notenblatt zu gehorchen. Und sie wissen: Nur wenn sie exakt nach dem Blatt spielen, funktioniert das Orchester als mächtiges Ganzes.
Welche Unterschiede gibt es noch?
Mit Popmusikern dauern die Proben sechs Wochen, weil alles verhandelt wird. Bei einem Orchester reichen drei Stunden.
Gab es bestimmte Dinge, die Sie lernen mussten, als Sie anfingen, mit Orchestern zu arbeiten?
Ja, zum Beispiel, dass die Perkussionisten eines Orchesters nicht wie der Schlagzeuger in einer Rockband die Rhythmussektion bilden, die alles zusammenhält. Sie sind sozusagen für die Zeichensetzung verantwortlich. Nehmen wir eine Partie von Mahler oder Debussy. Kein eindeutiger Rhythmus ist erkennbar, aber dann: Bumm! Die Pauke – ein Ausrufezeichen! Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass die Perkussionisten nicht wie ein Schlagzeuger in einer Band den Boss spielen, an dem sich alle orientieren. Das ist der Dirigent. Der Rest steht auf dem Blatt.
Als Schlagzeuger von The Police spielte der 66-jährige US-Amerikaner Stewart Copeland in Hits wie „Roxanne“ und „Message in a Bottle“. Später arbeitete er als Film- und TV-Komponist. Es folgten Opern, Sinfonien und Balletts. Mit der BBC produziert er gerade einen Dokumentarfilm, die nach den Quellen unserer Musikbegeisterung forscht.
Wenn Orchestermusiker sich so sehr nach dem Notenblatt richten, könnten Sie dann nicht irgendwann durch einen Computer ersetzt werden?
Das kann ein Computer schon jetzt.
So gut, dass man keinen Unterschied hört?
Es kommt darauf an. Bei den Streichern etwa gibt es Schwächen, vor allem im Legato. Aber natürlich sind es noch immer die Musiker, die den Instrumenten Leben einhauchen.
Könnte ein Computer in der Zukunft eine Form von musikalischer Schönheit produzieren, wie sie ein Orchester erreicht?
Damit habe ich in Hollywood meinen Lebensunterhalt verdient. Computer kommen schon lange zum Einsatz, um ein Faksimile zu erstellen, das man dem Regisseur oder Produzenten vorspielen kann. So wissen sie, wie das Endresultat in etwa klingen wird. Ich hatte allerdings auch schon mit einem Regisseur zu tun, der sich so sehr mit meinem falschen Sample-Orchester verbunden fühlte, dass ihm die Orchesteraufnahme, die später entstand, nicht gefiel. Aber das war ein Idiot.
Wird ein Computer je in der Lage sein, dieselbe Art von Resonanz zu erzeugen, wie sie zwischen Musikern und Publikum entsteht?
Hier ist eine unangenehme Nachricht für alle, die glauben, dass Musiker nie durch Computer ersetzbar sein werden: Die Art von Musik, die Menschen am ehesten dazu bringt, sich in der Öffentlichkeit ihre Geschlechtsteile entgegenzuschwingen, wird von Maschinen produziert. Elektronische Tanzmusik ist nicht ohne Grund so populär.
Das ist aber vielleicht auch ein etwas geringer Anspruch, oder?
Sicher, Sex – wie viel weniger anspruchsvoll kann etwas sein? Reiner Instinkt, mehr braucht es nicht. Weg vom menschlichen Intellekt und hin zum Tiergehirn. Darin liegt aber meiner Meinung nach auch das Wesen der Musik. Sie ist die einzige Kunstrichtung, die den Intellekt umgeht und die motorische Steuerung des Körpers an sich reißt. Musik bringt dich dazu, in der Öffentlichkeit eine offenkundig sexuelle Handlung zu vollziehen, sprich: zu tanzen. Was Musik mit Menschen anstellt, geht viel tiefer, als wir normalerweise annehmen. Wem glauben Sie eher: Ihren Augen oder dem Moll-Akkord? Ihre Augen sagen Ihnen, was Sie denken sollen. Aber was viel wichtiger ist: Musik sagt Ihnen, was Sie fühlen sollen.
Ein Phänomen, das beim Film ausgiebig genutzt wird.
Genau, manchmal negiert die Musik sogar den Dialog. Wenn der gut aussehende Kerl sagt: „Ich liebe dich“, die Zuschauer das aber bezweifeln sollen, kommt der Filmkomponist ins Spiel. Wir glauben der Musik, nicht Tom Cruise.
Was sagt uns das über Musik?
Hier ist meine Theorie: Musik ist ein Federkleid – wie bei einem Vogel. Sie bringt Menschen dazu, ihre Hemmungen abzulegen. Musik sagt einem: Es ist okay, mich sexuell zur Schau zu stellen. Wenn wir uns zur Musik bewegen, ist es in Ordnung, körperlichen Kontakt in einer Art zu haben, die eindeutig sexuell ist. Musik enthemmt. Dabei öffnet sie uns aber gleichzeitig auch für andere Dinge und lässt uns glauben, dass diese der eigentliche Grund dafür sind, warum wir sie mögen. Nehmen wir die Religion: Gott liebt die Musik, weil sie uns das Gefühl von Transzendenz gibt.
Einige Religionen verbieten die Musik.
Aber selbst der IS spielt Musik in seinen Propagandavideos. Einerseits verbieten die Islamisten Musik, aber wenn man sie beim Trainieren sieht, wollen sie doch nicht darauf verzichten. Musik ist ein sehr wichtiges Merkmal des Menschen. Als Kunst ist sie einzigartig. Rembrandt bringt dich nicht dazu, mit den Hüften zu wackeln. Auch Goethe schafft es nicht, deine motorischen Funktionen an sich zu reißen. Es kann sogar ein sozialer Nachteil sein, sich da zu verweigern. Wenn dein Fuß bei guter Musik nicht mitwippt, wirst du vielleicht sogar schief angeguckt. Wir haben diesen fundamentalen Instinkt genommen und erweitert. In ganz andere Bereiche: um Menschen zu überzeugen, um Produkte zu verkaufen und so weiter.
Wenn Musik einen Instinkt in uns anspricht, kann es dann Musik geben, die objektiv besser ist als andere?
Ich denke nicht. Dafür sind wir zu unterschiedlich gestrickt. Wir sind keine Geparden, bei denen jedes Individuum der Spezies mit jedem anderen fast identisch ist. Geparden haben eine der geringsten genetischen Varianzen in der Tierwelt. Menschen sind da viel mannigfaltiger.
Peter Shaffer scheint in seinem Bühnenstück „Amadeus“, das vom Miloš Forman verfilmt wurde, etwas anderes ausdrücken zu wollen. Er lässt dort Salieri über Mozarts Musik sagen: „Verändert man nur eine Note, dann mindert man die Qualität, verändert man eine Phrase, bricht die gesamte Struktur zusammen.“
Wie gesagt, da spricht Salieri. Mozart hätte gesagt: Ich kann es so spielen, aber auch so. Oder so oder so. Dieses Zitat ist die Art von Satz, den ein nichtkünstlerisches Genie sagen würde. Musikalisches Talent ist vielschichtig. Meine Brüder haben zum Beispiel ein besseres Gehör für Musik als ich, aber ihnen fehlt die Fingerfertigkeit.
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Aber wie viel kann man verändern, ohne dass die Qualität gemindert wird? In einem Genre wie dem Jazz zum Beispiel, der stark durch die Improvisation geprägt ist, scheint die Antwort zu sein: So gut wie alles.
Eines vorweg: Ich liebe Jazzfans, auch wenn ich gern über ihre Musik lästere. Sie kommen zum Konzert und wollen sehen, was du drauf hast. Das Jazz-Publikum möchte erleben, wie man sich gehen lässt. Das meiste im Jazz ist Fingergewackel. Es gibt aber Ausnahmen: Miles Davis, John Coltrane, Stanley Clarke … Die haben Musik gemacht, und der Umstand, dass sich dabei ihre Finger bewegten, war nur ein Nebeneffekt. Ansonsten gilt allerdings: Wenn du unbedingt Musiker werden willst, aber kein Talent hast, dann ist Jazz genau das Richtige für dich. Du musst nur 12 Stunden am Tag üben und lernen, deine Finger schnell zu bewegen.
Ein harsches Urteil.
Genau genommen sind 90 Prozent der Musik in jedem Genre Quatsch. Außer beim Blues, wo es sich exakt umgekehrt verhält. Ich kann mir jeden Idioten anhören, der Blues spielt, und es gefällt mir. Jazzfans wollen nicht, dass du den Song respektierst, dich zurücklehnst und den Sänger sein Ding machen lässt. Sie wollen, dass alle auf der Bühne zu jeder Zeit alles zeigen, was sie können – und bitte noch ein bisschen mehr davon!
Ganz anders sieht es im Pop aus.
Mein Leben als Popmusiker hat mir die Disziplin gegeben, immer dem Song zu dienen. Das Stück steht im Mittelpunkt, ich am Rande. Und damit bin ich glücklich. Dasselbe gilt für Orchestermusiker: Ein Orchester klingt nur deshalb so wunderbar, weil jeder Musiker seinen Teil beiträgt.
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