Ex-Foodwatch-Chef zu Entwicklungshilfe: „Ich war Teil der Zerstörung“
Am Beispiel Tunesiens zieht Ex-Foodwatch-Chef Thilo Bode eine ernüchternde Bilanz der EU-Entwicklungszusammenarbeit. Auch aus eigener Erfahrung.

taz: Herr Bode, Sie haben vor 30 Jahren in Tunesien Entwicklungshilfeprojekte betreut. Kürzlich haben Sie das Land wieder einmal besucht. Welche Bilanz ziehen Sie?
Thilo Bode: Ich war damals auf der Insel Djerba für ein Wasser- und ein Tourismusprojekt zuständig. Heute verfügen private Haushalte auf Djerba über Trinkwasseranschlüsse, das war früher nicht der Fall. Damals gab es dort aber auch nur rund zehn große Hotels – heute sind es über hundert. Der Tourismus hat Arbeitsplätze geschaffen, und Deutschland finanziert dort Meerwasserentsalzungsanlagen. Aber die Insel ist zu einer Müllkippe geworden, und das Wasser wird verschwendet. Djerba ist heute ein zerstörtes Paradies. Ich war Teil dieses Zerstörungsprozesses. Das macht mich unfassbar traurig.
taz: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat das Ziel, anderen Ländern zu helfen, die Armut zu überwinden. Hat das in Tunesien geklappt?
Bode: Wenn ich Entwicklungszusammenarbeit über Projekte definiere, dann sieht es nicht schlecht aus. Aber wenn man das Gesamtbild nimmt, kommt man zu anderen Ergebnissen.
taz: Was meinen Sie damit?
Bode: Man kann den Nutzen von Entwicklungshilfe nicht bewerten, wenn man andere Aspekte außer Acht lässt: die Handelspolitik der EU oder ihre außenpolitischen Interessen. Die entwicklungspolitischen Organisationen wie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) evaluieren sich selbst, und diese Evaluierung bewertet ausschließlich den Erfolg einzelner Projekte. Ein Land wie Tunesien, in dem die meisten Projekte positiv bewertet werden, kann trotzdem vor die Hunde gehen.
taz: In den 1980er Jahren war der Lebensstandard in Tunesien höher als in China oder Südkorea. Heute scheint Nordafrika wirtschaftlich abgehängt, Asien dagegen hat einen rasanten Aufschwung erlebt. Woran liegt das?
Bode: Die Basis für eine wirtschaftliche Blüte, von der nicht nur eine kleine Elite profitiert, ist eine Form der Landwirtschaft, mit der Bauern auf eigenem Land durch den Anbau von Lebensmitteln, die sie produzieren und verkaufen, gutes Geld verdienen, statt auf großen Farmen nur für den Export zu produzieren. Damit setzen sie gesamtwirtschaftliche Impulse, die wiederum Jobs schaffen. Das ist mittlerweile Konsens in der Wissenschaft. In den Ländern, denen es heute wirtschaftlich schlecht geht, gibt es diese Landwirtschaft nicht. Das gilt insbesondere für Subsahara-Afrika. China und Südkorea dagegen haben ganz bewusst den landwirtschaftlichen Sektor für Kleinbauern gefördert.
taz: Tunesien nicht?
Bode: Die Menschen in China müssen nicht mehr hungern, die Kinder bekommen eine gute Ausbildung, und die Familien sind sozial abgesichert, etwa durch ein funktionierendes Gesundheitssystem. Es gibt soziale Ungleichheit und Unterdrückung, ja. Aber die verarmten Bauern auf dem Land in Tunesien können von solchen Verhältnissen nur träumen. Im Süden Tunesiens arbeiten mehr als die Hälfte der Menschen im informellen Sektor, ohne jegliche soziale Sicherheit. Sie können sich nicht einmal mehr das einheimische, hochwertige Olivenöl leisten, sondern greifen auf billiges und verschnittenes Öl zurück. Tunesien päppelt hauptsächlich einen exportorientierten, industriellen Minisektor. Der schafft zu wenig Jobs, um die Armut wirksam zu bekämpfen.
taz: Der Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali im Januar 2011 markierte den Beginn des „Arabischen Frühlings“. Woran ist er in Tunesien gescheitert?
Bode: Zwei Jahre nach dem Sturz von Ben Ali bin ich durch das Land gereist. Vom Taxifahrer bis zum Studenten sagten mir alle, wie frei sie sich ohne die ständige Angst vor der Polizei fühlten. Aber davon könne man sich nichts zu essen kaufen, sagten viele auch. Sie hofften auf ein besseres Leben. Aber das blieb ein Traum.
taz: Warum?
Bode: Eine Revolution muss die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ändern. Doch nach Ben Alis Sturz blieben die ungerechten Landbesitzverhältnisse ebenso unangetastet wie der Einfluss weniger reicher Familien, auf denen Ben Alis Herrschaft basierte. Auf meiner letzten Reise haben die Menschen gesagt, dass ihnen die Demokratie nichts gebracht habe. Sie wollen lieber einen Diktator, in der Hoffnung, dass dieser eine Neuordnung schafft.
Jahrgang 1947, war Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland und danach von Greenpeace International. 2002 gründete er die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch. Im Herbst erscheint sein Buch „Resist. Aufruf zum Widerstand. Erinnerungen eines politischen Aktivisten“.
taz: Ist diese Hoffnung berechtigt? Präsident Kais Saied herrscht wieder autoritär.
Bode: Es heißt, er persönlich sei nicht korrupt. Aber er kann es nicht wagen, sich mit den korrupten Eliten anzulegen, die den Staat und die aufgeblähte Verwaltung kontrollieren. Dafür ist Tunesien unter Kais Saied wieder zu einem Polizeistaat geworden. Das hat mich sehr enttäuscht.
taz: Nach Ben Alis Sturz wurde die deutsche Entwicklungshilfe für Tunesien massiv ausgeweitet. War das ein Fehler?
Bode: Mehr Entwicklungshilfe ist nicht unbedingt bessere Entwicklungshilfe. In Tunesien hätte es eine Landreform gebraucht, um die ländliche Armut zu bekämpfen.
taz: Warum hat Deutschland nicht stärker darauf gedrängt?
Bode: Die deutsche Außenpolitik hat das Ziel, gute bilaterale Beziehungen mit Tunesien zu pflegen. Die Armut durch eine andere Agrarpolitik zu bekämpfen, widerspräche diesem Ziel, denn das würde die Pfründen der Eliten, der wahren Machthaber im Land, bedrohen. Und wenn sich diese Eliten bedroht fühlen, könnten rasch noch mehr Boote mit Flüchtlingen nach Europa kommen.
taz: Europa hofft, durch seine Entwicklungshilfe die Migration aus Nordafrika nach Europa aufzuhalten. Ist das realistisch?
Bode: Nein. Die EU zahlt viel Geld an die tunesische Regierung, damit diese Flüchtlinge aus Afrika an der Überquerung des Mittelmeers nach Europa hindert. Die tunesischen Behörden gehen dabei äußerst brutal vor, setzen Menschen ohne Nahrung und Wasser in der Wüste aus und bestrafen Menschenrechtler, die ihnen helfen wollen. Die Migrationspolitik der EU tritt die Menschenwürde mit Füßen, doch das ist bei uns leider kaum ein Thema. Diese Strategie macht die EU auch noch erpressbarer. Denn die jeweiligen Empfängerländer sagen: Wenn ihr uns zu viele Bedingungen stellt, können wir das Geld auch gerne von den Russen oder Chinesen nehmen.
taz: Die EU nimmt diese Menschenrechtsverletzungen in Kauf, um Menschen von der Flucht nach Europa abzuschrecken.
Bode: Die Küstenwache in Tunesien und Libyen wird aufgerüstet, aber das grundsätzliche Problem bleibt. Denn diese Form der Migration wird nur aufhören, wenn die Armut in den Herkunftsländern effektiv bekämpft wird. Für Wirtschaftsflüchtlinge – Menschen, die ein besseres Leben wollen – gibt es keinen legalen Weg zu uns. Doch für viele Menschen ist die Lage zu Hause so verzweifelt, dass sie ihren Tod riskieren, um ihr zu entfliehen. Es ist die Armut, die diese Menschen antreibt, dieses Risiko einzugehen. Die Entwicklungszusammenarbeit allein kann diese Armut nicht beseitigen.
taz: Sie sagen, die EU-Handelspolitik trägt zur Verarmung bei. Haben Sie ein Beispiel dafür?
Bode: Der Olivenanbau ist in Zentraltunesien der wichtigste Wirtschaftszweig. Doch Investoren bauen dort jetzt eine neue spanische Sorte an, die auf buschartigen Bäumen wächst, die maschinell geerntet werden können. Sie werden künstlich bewässert, meist aus illegal betriebenen Brunnen. Sie verdrängen die alten Olivensorten, die keine künstliche Bewässerung benötigen. Dazu trägt auch die EU-Handelspolitik bei. Denn über ein zollfreies Kontingent hinaus darf Öl aus Tunesien nur zollfrei nach Europa exportiert werden, wenn es in der EU mit spanischem oder italienischem Olivenöl verschnitten und dann als Öl aus Spanien oder Italien verkauft wird – diese Herkunftsbezeichnung verschafft einen Preisvorteil. Der Protektionismus der EU schafft somit einen Anreiz, minderwertiges und ökologisch schädliches Olivenöl zu produzieren und als Billigware nach Europa zu verscherbeln. Mit der einen Hand gibt die EU Entwicklungshilfe. Mit der anderen, der Handelspolitik, trägt sie zur Verarmung bei. Was nützt das?
taz: Könnte mehr Freihandel Tunesien mehr Wohlstand bringen? Ein entsprechendes Abkommen mit der EU, Aleca genannt, liegt derzeit auf Eis.
Bode: Nein. Dieses Abkommen zeigt, wie wenig ernst es der EU damit ist, Armut zu bekämpfen. Aleca sah vor, die Milchwirtschaft in Tunesien weitgehend zu liberalisieren. Aber die mechanisierte Milchwirtschaft wird die ländliche Armut nicht beseitigen, sondern erhöhen. Lokale Bauern haben gegen europäische Hersteller wie Danone und Co keine Chance. Hunderttausende auf dem Land würden ihre ohnehin kärglich entlohnten Jobs verlieren. Die tunesische Zivilgesellschaft hat sich deswegen gegen dieses Abkommen gewehrt.
taz: Haben Sie noch Hoffnung, dass die Probleme gelöst werden können?
Bode: Es gibt auf diesem Planeten genügend Platz und Lebensgrundlagen für alle. Die Weltbevölkerung wird sich 2050 etwa bei zehn Milliarden stabilisieren, das kann man recht gut prognostizieren. Wir kennen für viele Probleme die Lösungen – etwa, dass man mit Sonne, von der es in Tunesien ausreichend gibt, die Energieprobleme lösen kann. Mir bleibt die Hoffnung, dass sich die armen Länder auf ihre eigenen Möglichkeiten und Potenziale besinnen. Es ist ein gutes Zeichen, dass die ehemaligen französischen Kolonien ihre vormaligen Kolonialherren jetzt aus dem Land werfen. Und ich will dazu beitragen, überzogene Erwartungen an die Entwicklungshilfe zu dämpfen und deren hässliche Nebenwirkungen zu erkennen.
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